Die Angst vor der Angst der anderen

24. August 2017
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Medien | Non enim sciunt quid faciunt

N-TV liefert ein Bravourstück ab, für das man einen goldenen Preis männlicher Rinderexkremente ins Leben rufen sollte. Die deutliche Ausdrucksweise ist des Löwen Sache üblicherweise nicht, aber manche Traktate lassen selbst hartgesottenen Opfern der Journalistendummheit die Haare zu Berge stehen. Aber halt – dieses Mal geht es nicht einmal (in erster Linie) um den Bericht, sondern die beiden Interviewten. Florian und Egon heißen sie, die beiden Jungunternehmer, Sachsen obendrein, die sich vor der radikalisierten Umwelt fürchten. Damit entsprechen sie in mehrfacher Hinsicht den guten Deutschen: sie haben Haltung und Angst. Merkwürdig, dass in Deutschland Angst vor Veränderung immer irrational ist, aber Angst vor den Mitmenschen, besonders vor den immer noch maskierten urdeutschen Ostnazis, völlig ironiebefreit als akzeptabel gilt.

Der Einstieg zeigt uns bereits, wo die Reise hingeht.

„Manchmal ist es schwer, sich an Neues zu gewöhnen – je fremdartiger, desto schwerer. Als die Loschwitzer Brücke 1893 fertiggestellt wurde, waren die Dresdner von ihrer Fremdartigkeit dermaßen schockiert, dass sie sich noch jahrelang über den gefühlten Makel in der Stadtlandschaft aufregten. Heute gilt das „Blaue Wunder“ als eines der Wahrzeichen der Stadt: Die Dresdner sind stolz auf die elegante Brücke mit der ungewöhnlichen Form, führen ihren Besuch über sie oder trinken in ihrem Schatten am Elbufer Bier. So wie Florian und Egon, die mit einem Sixpack ihren Feierabend einläuten und über Gott, die Welt und die Angst vor Veränderung sprechen.“

Quod erat expectandum. Da ist sie wieder, die Angst vor Veränderung. Lassen Sie mich das übertragen: die Flüchtlingskrise ist quasi wie eine neue Brücke: hässlich, aber … nein, Moment, lassen Sie mich noch einmal von vorne beginnen: Flüchtlinge sind wie ein blaues Wunder, im Nachhinein entpuppen sie sich dann … nein, auch nicht gut. Ein letzter Versuch: Migration beginnt als Makel, aber am Ende erleben wir alle unser hässliches blaues Wunder …
Gut, besser, ich erspare mir die Interpretation der völlig verqueren Metapher. Nebenbei: entmenschlicht eigentlich so eine Brücke nicht die Neubürger von 2015? Ist das nicht wieder latent rassistisch? „Menschen“ als „Sachen“?

„Wir können doch nicht die Augen vor der Realität verschließen: Die Flüchtlinge sind da und die meisten von ihnen werden auch nicht mehr gehen“, sagt Florian und schiebt hinterher: „Und das ist auch gut so, die Aufnahme von Flüchtlingen bringt uns ja nicht nur als Gesellschaft, sondern auch wirtschaftlich weiter, jedenfalls wenn wir langfristig denken.“

Da hat der Florian jetzt etwas total Kluges und Besonnenes gesagt. Das kann der Florian, denn Florian hat Haltung. Denn er schaut offenen Auges in die Realität, steht mit beiden Füßen auf dem Boden. Unsere Kanzlerin sagt dann: „Sind sie eben jetzt hier“. Weil was passiert ist, muss man das akzeptieren. Florian ist schon total vermerkelt, obwohl erst Ende Zwanzig. Früher war Florian bei der Feuerwehr, aber als ein Krankenhaus brannte, meinte Florian auch: „Steht es eben in Brand“. Kein Problem für Florian, denn Feuer geht irgendwann von alleine aus, wenn das Haus nur noch aus glühenden Trümmern besteht. Das Problem als Lösung – so geht Politik und Diskussionskultur im besten Deutschland aller Zeiten. Und wer anderer Meinung ist, verschließt als rückwärtsgewandter Nazi einfach mal so die Augen.

Vielleicht war es nicht so gut, dass Florian gerade samt Sixpack mit einem Reporter von N-TV faselt, aber dabei kommt man immer auf die besten Ideen. Vermutlich entstand so das ganze Interview.

Aber eins ist klar: die Flüchtlinge bringen uns weiter. Wirtschaftlich. Gesellschaftlich. Dass selbst die Bundesarbeitsministerin Nahles zugeben musste, dass wir größtenteils Analphabeten ohne jedwede Berufsqualifikation aufgenommen haben, davon weiß Florian wohl nichts. Auf die nigerianischen Raketenwissenschaftler und irakischen Startup-Unternehmer warten wir jedenfalls noch vergeblich. Böse Zungen könnten behaupten, dass die iranischen Nuklearexperten nur wegen der Angst der Deutschen vor der Kernkraft bisher draußen bleiben mussten. Vielleicht weiß Florian aber auch einfach etwas mehr als wir – denn „gesellschaftlichen Fortschritt“ im Angesicht millionenfacher Einwanderung von jungen Männern zu sehen, die größtenteils ein eher ausbaufähiges Frauen- und Judenbild haben, dazu braucht man schon Phantasie.
Oder eben noch ein Bier.

„Unsere Bevölkerung altert rapide. Wenn wir unsere wirtschaftliche Stärke halten wollen, brauchen wir frisches Blut und aufgeweckte Köpfe aus dem Ausland.“

In der Tat scheint also in Sachsen die Anzahl zugewanderter syrischer Molekularbiologen oder afghanischer Ökostromerfinder höher auszufallen als bei mir im verlotterten Rheinland, denn anders kann man ja kaum auf solche Ideen verfallen. Natürlich, holt die koreanischen Wissenschaftler, taiwanesischen Spezialisten, die indischen Informatiker, die chinesischen Unternehmer! Warum wir dann aber ausgerechnet arabische und afrikanische Einwanderer herlocken, unterqualifiziert, kulturell kaum kompatibel und mit religiösen Vorstellungen behaftet, die sich nicht im geringsten mit unseren Vorstellungen von „Staat“ verstehen – das verstehe ich allerdings nicht. Vielleicht hat Florian auch mit „frischem Blut“ was ganz anderes in Sinn – so in Barcelona, Paris, London, Berlin, Turku? Man darf ja mal fragen! Denn letzteres tut der Reporter irgendwie bei so etwas nie. Besonders, wenn es mal um Fakten oder Nachhaken geht. Aber vielleicht ist auch Beitragsschreiber Julian gerade dabei, sich noch ordentlich ein bisschen Gerstensaft zu zischen, statt seinem Beruf nachzugehen.

„Du hast ja Recht“, antwortet Egon seinem Kumpel, „aber wie willst du das denn den ganzen AfD-Wählern und Pegidisten klarmachen? Die hören dir doch gar nicht zu.“ Es klingt, als hätte Egon, der von sich selbst nur sagt, dass er als Unternehmer in der Fleischwirtschaft arbeitet, schon einschlägige Erfahrungen auf dem Gebiet gemacht. Mit viel Frust in der Stimme erklärt er sich: „Aufklärung ist das wichtigste Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit. Aber wie willst du aufklären, wenn dir die, auf die es ankommt, nicht zuhören? Und das sind in der Mehrheit die Wähler der AfD, die ja wahrscheinlich in den Bundestag einzieht.“

Zwischen 7 und 9 Prozent der Stimmen würde die AfD nach aktuellen Umfragen bekommen. Das ist zwar deutlich weniger als noch zu Beginn des Jahres, für Egon und Florian aber kein Grund zur Beruhigung, zumal die Zustimmungswerte in Sachsen deutlich höher liegen: 21 Prozent der Menschen in Dresden, Chemnitz & Co. würden ihr Kreuzchen bei der AfD machen, wäre heute Bundestagswahl. „Wie erreicht man diese Leute und erklärt ihnen die Tragweite der Flüchtlingsproblematik?“, wundert sich Egon. „Mit Werbespots im Kino oder im Fernsehen vielleicht? Gemäßigte Politiker haben jedenfalls keine Chance, man sieht ja, wie die vom Pegida-Mob angegangen werden, wenn sie sich dahintrauen.“

Florian und Egon haben einige Ideen. Blöd, dass die doofen AfD-Wähler rein emotionsgesteuert sind, und nicht die vielen klugen Fakten wie Florian und Egon kennen. Aufklärung ist alles. Dass die beiden jungen Männer selbst keine Ahnung haben, wovon sie reden – die ganzen Aktionen gibt es nicht nur bereits, es mangelt den beiden ja selbst an grundlegendem Wissen – ist dabei fast schon unerheblich, führt man sich vor Augen, dass die beiden mindestens so verbohrt sind wie die von ihnen kritisierten Leute. Denn dass die AfD-Wähler die Partei wählen, hat sicherlich nicht damit zu tun, dass sie womöglich die Tragweite der Flüchtlingsproblematik unterschätzen; sondern weil keine andere Partei diese thematisiert, außer eben im Florian-Egon-Duktus: „Weiter so!“

„Das ist alles so bescheuert“, sagt Florian nach einer längeren Pause. „Uns geht es doch grundsätzlich gut in Deutschland, vor allem, wenn wir uns mal in der Welt umschauen. Dieser ganze ‚Merkel muss weg‘-Mist ist doch völliger Quatsch.“

Ja, wenn man eben nicht gerade zufällig im Supermarkt niedergestochen, auf der Domplatte massiv sexuell belästigt bzw. vergewaltigt oder von einem LKW auf dem Breitscheidplatz umgefahren wird. Aber grundsätzlich geht es uns ja gut in Deutschland. Wir sind eben nur nicht mehr sicher. Geht doch alles.

„So etwas wie das Flüchtlingsproblem ist vorher noch nie da gewesen: Kein Politiker hätte das besser machen können. Die Kanzlerin sollte weiter an ihrem Kurs festhalten und sich von den Kritikern nicht beeindrucken lassen. Irgendwann in ein paar Jahren oder meinetwegen auch ein paar Jahrzehnten werden die Menschen dann zurückschauen und sagen: ‚Jo, war ganz schön schwer, sich daran zu gewöhnen, aber es hat sich gelohnt.’“

Schon faszinierend, wie das Flüchtlingsproblem „einfach da war“ und mit Merkel nichts zu tun hatte. Dass es da einen Zusammenhang geben könnte, und deswegen so oft „Merkel muss weg“ skandiert wird – zu diesen einfachsten logischen Schlüssen sind Merkels Bubis nicht mehr in der Lage. Es wäre ja alles recht unterhaltsam, handelte es sich nicht um Leute, die beim Urnengang dasselbe Stimmrecht haben wie Sie und ich. Wie auch der ideologische Kuchen aufgefressen wurde, etwas Großes und Wichtiges getan zu haben – übrigens ein deutscher Hang zum Pathos, wie man ihn eigentlich eher im rechtsnationalen Lager verortet – das hätte selbst so manchen Propagandaminister einschlägiger sozialistischer Diktaturen zum Heulen gebracht.

Das Programm der beiden Jungs besteht daher nur daraus: Andersdenkende zu belehren. Um die Migration geht es gar nicht mehr, denn da scheint es keinerlei Lösungsbedarf zu geben, folgt man den beiden spleenigen Kerlen. Viel geschwätzt, wenig getan, dafür Haltung gezeigt – mehr oder minder die Definition des schlimmen Unwortes „Gutmensch“.

Die beiden Kumpels leeren ihre letzten Flaschen und machen sich dann über das „Blaue Wunder“ auf den Heimweg nach Loschwitz – über eine Brücke, die früher mal so fremdartig war und heute als Dresdner Wahrzeichen gilt.“

Das Bonn-Center war übrigens auch mal ein Wahrzeichen und galt am Anfang wie Ende nicht gerade als hübschester Ort. Der Verbleib ist allgemeinhin bekannt.

Aber gut, beim Flüchtlingsmärchen wird es ja anders ausgehen. Sind Florian und Egon sicher.
Oder hoffen es wenigstens.

Teilen

«
»