Der Begriff des „Dunklen Zeitalters“ macht immer wieder die Runde, wenn das Mittelalter zur Sprache kommt. Dabei stimmt dies nur teilweise. Die im Angelsächsischen bekannten „Dark Ages“ sind jene, in denen unsere Quellen eher spärlich sind, wir uns also ohne Belege und Literatur durch einige Jahrzehnte, gar Jahrhunderte hindurcharbeiten müssen. Der Historiker tappt „im Dunkeln“. Im engeren Sinne war damit vor allem die nachrömische Epoche in Großbritannien gemeint. Der Verfall städtischer Strukturen und Organisationsformen ging mit einem Rückgang der Schriftlichkeit einher. Die Abkehr vom Münzgeld und die Rückkehr zum Naturalienhandel machen auch dem Numismatiker in solchen Fällen das Leben schwer; es bleibt dann heutzutage nur noch die Archäologie, die ein Licht in diese Finsternis bringt.
Ein „dunkles Zeitalter“ existiert jedoch nicht nur zu Beginn des Mittelalters, sondern schon im Vorfeld der klassischen griechischen Antike. Der Trojanische Krieg ist eine Erinnerung an den Fall einer Hochkultur in literarischer Form – und das Jahrhunderte vor Homer. Die Kulturen auf Kreta und auf der Peloponnes, die wir als Minoische bzw. Mykenische Kultur kennen, waren eine frühe Hochblüte europäischer Zivilisation. Die genauen Gründe für deren Untergang ab etwa 1200 v. Chr. sind bis heute in der Forschung noch nicht abschließend geklärt. Der Niedergang zeigt sich in der Aufgabe der großen Palaststädte. Auch die Kunstfertigkeit leidet erheblich: gegen die Schätze und Keramiken aus Mykene erscheinen die griechischen Gefäße des 9. und 8. Jahrhunderts geradezu primitiv.
Wie Europa auch im Zeitalter der Völkerwanderung als Großraum in Mitleidenschaft gezogen wird, gilt dies auch für den Zeitraum um etwa 1200 v. Chr. Damals sind es der östliche Mittelmeerraum und der Nahe Osten der in chaotische Zustände verfällt. Das Hethiterreich in Kleinasien wird vernichtet, als es dem verbündeten Königreich von Zypern zur Hilfe eilt; einstmals blühende Häfen werden an der levantinischen Küste in Schutt und Asche gelegt. Einzig Ägypten kann sich mit letzter Kraft unter Ramses III. gegen die Invasion der „Seevölker“ wehren. Diese mysteriöse Schar von Invasoren, deren Herkunft bis heute nicht abschließend geklärt ist, setzt dem Alten Orient ein Ende.
Für Mykene nahm man lange Zeit an, die Dorer hätten der ersten griechischen Hochkultur ein Ende gesetzt. Mittlerweile glaubt die Forschung nicht mehr an eine „Dorische Völkerwanderung“, die das alte Griechenland zerstört hätte. Der zunehmende Festungsbau im 13. Jahrhundert und die Zerstörung mykenischer Städte in Küstennähe lassen jedoch den Schluss zu, dass Mykene vielleicht nicht von der dorischen Wanderung, sehr wohl aber von den Aktionen der „Seevölker“ betroffen war.
Wie beim alten Rom mag man sich auch beim alten Orient streiten, ob die jeweilige Völkerwanderung tatsächlich der alleinige Grund für den Untergang war. Seuchen, Hungersnöte und interne Krisen sind in beiden Gesellschaften belegt. Das Zusammenwirken mehrerer Ereignisse ist wahrscheinlicher als Monokausalität. Es bleibt daher nicht die Frage, ob die Massenmigration zum Untergang der Staaten führt; sondern eher, ob nicht bereits die Massenmigration selbst bedeutet, dass eine Kultur bereits untergegangen ist, weil sie diesem Phänomen gestattet, Fuß zu fassen. Auch Rom wurde nicht so sehr zur Beute der Germanen, weil die Germanen mächtig waren, sondern die Römer ihnen erst erlaubten, in ihrem Reich die Macht zu übernehmen.