Dieses Deutschland ist ein Fehler

28. Juli 2017
Kategorie: Freiheit | Hintergrund und Schreibarbeit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Non enim sciunt quid faciunt | Über die Demokratie in Deutschland

»Dieses Deutschland ist ein Fehler.«
Die Stuhllehne knarrte, Eiswürfel klirrten. Ein fingerlanger Holzstab rührte zwischen limettenfarbenem Saft und zerbrochenen Eisstücken, die unter der italienischen Sonne schmolzen. Signore Persino hatte sich auf seinem Platz zurückgelehnt und schaute auf marineblaues Wasser. Der Casazza-See glitzerte in der Nachmittagssonne, in der Ferne erhoben sich die Berge.
Persinos Rückkehr war eine Zäsur für den kleinen Ort gewesen. In San Vitale bemerkte der örtliche Geheimdienst – an der Spitze der örtliche Priester mit den ihm ergebenen Tratschweibern, die vor Jahrhunderten exzellente Hirtenhunde der Inquisition abgegeben hätten – jede Veränderung. Üblicherweise pflegte Persino nur für zwei Wochen im Sommer zu kommen; er hatte vor Jahrzehnten seine kleine Heimat verlassen, um „Geld zu machen“. Die Aussichten im Ausland erschienen damals erheblich besser als zwischen wilden Olivenhainen und verfallenen Limonenplantagen. Den Casazza-See rahmten Hügel und Felsen ein, noch Anfang des letzten Jahrhunderts hatte man die kleineren Orte am Ufer nur per Fähre erreichen können. Für Persino hatte sich eine günstige Option in Deutschland ergeben, die er sofort nutzte.
Den Bewohnern war jedoch seit etwa fünf Jahren eine erste Veränderung aufgefallen, da Persino ab da auch im Frühling vorbeischaute. Später kam er auch im Herbst und Winter. Die Sommeraufenthalte verlängerten sich auf einen Monat. Vor zwei Jahren musste Signore Persino die Winterreifen aufziehen, bevor er seinen „Sommerurlaub“ beendete, nur, um anschließend die Winterferien bis in die Ostertage zu verlängern.
Dieses Jahr war Persino schon im Mai zum Sommerurlaub gekommen. Seitdem war er geblieben. Der priesterliche Geheimdienst hatte in Erfahrung gebracht, dass er nur wenige Tage später seinen Erst- und Zweitwohnsitz vertauscht hatte.
»Ich werde nicht zurückkehren«, stocherte Persino neuerlich im Eis. »Die Firma hat bereits angerufen.«
»Und was hast du gesagt?«
»Nichts, Benché. Ich habe die Nummer auf dem Display gesehen – und sie ignoriert. Salute!«
Signore Benché hatte bisher keinen Menschen getroffen, der seine eigene Arbeitslosigkeit so zelebrierte. Persino hob das Glas in seine Richtung, genoss sichtlich die gekühlte Zedratzitrone. Benché wunderte sich in solchen Momenten: denn in Italien hatten die Krise und die Arbeitslosigkeit das Land fest im Griff. Viele hätten gerne mit Persino getauscht. Deutschland, das war: Stabilität, Ordnung, Effizienz. Die kleinen Leute wie Benché pflegten niemals „Deutschland“ zu sagen – das Wort „groß“ ging ihm immer voran, um zu unterstreichen, wie klein und unbedeutend Italien mit all seinen Krankheiten dagegen wirkte. In Deutschland kam die Bahn pünktlich, die Bürokratie funktionierte und Korruption gab es keine. Benché wäre wohl auch vor Jahrzehnten nach Deutschland gezogen, wenn ihn nicht die dortigen Unannehmlichkeiten abgehalten hätten. Benché hätte sich nicht vorstellen können, in einer Blockhütte inmitten von Schnee und Bären zu hausen und den ganzen Tag nur „Wurstel“ zu essen. Außerdem – so wusste Benché – verschwand die Sonne in Deutschland für ein halbes Jahr im Winter.
Jodeln konnte er außerdem auch furchtbar schlecht.
In der Tat hätte Benché Signore Persino undankbar genannt, wäre Benché nicht zugleich der Betreiber jener Taverne gewesen, in der Persino täglich sein Glas Zedratzitronensaft mit Eis zu trinken pflegte. Persino war ein guter Gast, und je länger er in San Vitale verblieb, desto besser war er.
»Mir kommt es so vor, als würdest du sehr schlecht von Deutschland reden«, begann Benché freundlich. »Dabei hast du es doch so geliebt.«
»Oh doch, Deutschland liebe ich sehr«, entgegnete Persino. »Aber am besten liebt man Deutschland nur aus genügender Entfernung.«
»Ich verstehe dich immer noch nicht.«
»Stell dir vor, mein lieber Benché, hier käme morgen ein hoher Beamter vorbei. Er würde zu uns treten, auf mich zeigen und dir befehlen, nicht mehr mit mir zu sprechen. Was würdest du tun?«
Der Wirt grinste.
»Ich würde ihm sagen: ja, sehr gerne Signore! Sehr recht, Signore!«, nickte Benché eifrig – und machte dann eine Handbewegung. »Und wenn er raus ist, sprechen wir miteinander, wie gewohnt.«
»Gut«, meinte Persino. »Und wenn ein hoher Beamter käme, und dir verböte mich zu bedienen – dann würdest du dasselbe tun?«
Benché hob die Augenbrauen.
»Warum sollte ich dich nicht bedienen?«
»Weil ich falsche Ansichten habe. Deswegen.«
»Was interessieren mich Ansichten!«, lachte der Wirt. »Mich interessiert doch nur dein Geld!«
Persino blieb kühl.
»Du würdest also auf dieselbe Weise verfahren?«
»Freilich.«
»Und wenn der Beamte zum dritten Mal käme, und dir Sanktionen androhte, weil du mich bedienst und mit mir sprichst?«
»Persino, was sollen diese dummen Fragen? In meinem Haus mache ich, was ich will.«
»Weil du damit die Chance verpasst, ein Held zu werden.«
»Ein Held?«, verstand Benché nicht.
»Ein deutscher Held«, bekräftigte Persino. »Wer Menschen mit unliebsamer Meinung ausschließt, ihnen keine Gaststätte anbietet, und das wiederholt, was auch die Regierung denkt, der gilt in Deutschland als Held. Vielleicht käme sogar ein Fernsehbericht über dich. Aber mindestens eine Zeitungsmeldung.«
Der Gast hob das Glas, schaute in die Ferne.
»Es ist der Ausweis nobelster Gesinnung, wenn man dem nachkommt, was die Masse von einem verlangt. Sie nennen es Toleranz.«

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