Warum sollte ich etwas über den Evangelischen Kirchentag schreiben? Eine Veranstaltung, die selbst mit Stolz darauf verweist, kein religiöses, sondern ein politisches Ereignis zu sein, dennoch das Wort „Kirche“ ebenso im Munde führt wie einige Vertreter der großen Kirchen prominenten Platz gibt – das riecht bereits nach so viel Fremdscham, dass man das Thema nicht einmal mit der Kneifzange anfassen möchte. Trump trifft sich mit Papst Franziskus, Merkel mit Obama auf dem Kirchentag. In derselben Woche. Ohne Pointe. Der Zyniker möchte hinzufügen: da die Berliner Veranstaltung schon so ganz auf jedes christliches Bekenntnis verzichtet, musste der Ersatzmessias des Westens eingeflogen werden. Zum Lutherjubiläum verweilt der Erzsatan indes als Gegenbild neuerlich in Rom. Allerdings sitzt er nicht auf dem Stuhle Petri, sondern fliegt danach nach Brüssel weiter, wo er Feuer und Schwefel spuckt. Der Ablass in neuerer Form heißt heute: 2 % des Haushaltes für Militärausgaben. Ein Dekret, gegen das sich unsere heldenhafte Pastorentochter ganz im Geiste Luthers auflehnt.
Es war also eine sehr spannende letzte Woche aus protestantischer Sicht. Es brauchte dann auch den hier in der Sonntagsschau verlinkten Artikel von Tobias Klein, um meine selbst erklärte Ignoranz gegenüber diesem „Event“ (ich wähle das Wort hier mit Bedacht; kein anderer Anglizismus fasst das Geschehen und metaphysisches Nasenrümpfen so zusammen) abzulegen. Grauen trifft mein Verhältnis seitdem besser. Neben einer neuen, unseligen Verbindung von Thron und Altar, bei der von der Kanzel nicht mehr die Botschaften des Evangeliums, sondern die gegenwärtiger Ideologien verbreitet werden – Demokratie unser, die du bist bei vielen Gendern, geheiligt werde dein Name/ unser veganes Brot gib uns heute/ und erlöse uns von der Hatespeech – kann man hier haargenau beobachten, was mit einer Kultur geschieht, die sich ihrer ursprünglichen Religion komplett entkleidet: es bleibt pure Banalität. Das Bekenntnis zum Westen und seinen Werten erhält dabei die Form eines neuen Gottesdienstes, bei dem der ehemalige Präsident der Demokraten als Heiland erscheint; der Friedensnobelpreis ist die Aureole der neuen Heiligen. Dass es sich hierbei um einen Gefallenen handelt, der in Libyen Chaos stiftete und den Drohnenkrieg aggressiver führte als George W. Bush – diese Makel werden wohl auch in dieser Heiligenvita vergessen.
Es ist dann auch vielsagend, dass wirklich jede Minderheit willkommen ist, um die bunte Kirchenschau zu bereichern. Unterdrückte dieser Erde und so. Einzig die eigene Religionsgruppe darf unter dem Joch der Welt leiden. Landesbischof Dröge kritisiert zum einen die AfD, so, als stände wieder einmal die Machtergreifung vor der Türe, betont andererseits, man dürfe die „Christenverfolgung nicht dramatisieren“. Das geschieht in der selben Woche, als ein Attentat in Ägypten erneut fast 30 Menschen in den Tod reißt. Aber natürlich hat das nichts mit der Religion zu tun – weder mit jener der Opfer, noch der Täter. Jetzt lese ich häufiger, die Aussage sei aus dem Zusammenhang gerissen, es handele sich um üble Nachrede – es ist aber eben jene Stimmung auf dem Kirchentag und Geist dieses verkappten Parteitags aller Parteien, und wer nicht glauben will, der lese diesen – mittlerweile gelöschten – Tweet des offiziellen Accounts des Kirchentages:
Ja, es hilft, dauernd über die AfD, die bösen Menschen im Internet, die Islamophobie und allem anderen Schmarrn zu reden, Dinge, bei denen nicht ein einziger (!) Mensch bisher getötet wurde; indes die derzeit bestehenden Christenverfolgungen, die mehr Todesopfer gefordert haben, als alle Hexenverfolgungen in der Geschichte der Menschheit, nicht weiter „dramatisiert“ werden sollen – oder noch schlimmer, man soll erst gar nicht darüber reden.
Dies waren die ersten Höhepunkte; bliebe noch Käßmann.
„Die Reformationsbotschafterin Margot Käßmann hat in einer Bibelarbeit auf dem Kirchentag in Berlin die AfD angegriffen. Die Forderung der rechtspopulistischen Partei nach einer höheren Geburtenrate der „einheimischen“ Bevölkerung entspreche dem „kleinen Arierparagrafen der Nationalsozialisten: Zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern. Da weiß man, woher der braune Wind wirklich weht“, kritisierte die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unter tosendem Beifall.“
Ja, das ist zu kritisieren. Nein, Käßmann meint nicht, dass jeder mit deutschen Großeltern und deutschen Eltern „braun“ ist, wie man fälschlicherweise kolportierte. Wenn man aber in der Öffentlichkeit steht und einem kein anderer Vergleich als aus der „braunen“ Ecke einfällt, wirft das wieder ein Licht auf jemanden, der Terroristen mit Liebe begegnen will, aber einigen Politikern die Wiedereinführung des NS-Staates unterstellt. Es ist diese absolute Maßlosigkeit. Und das ist das Denunziatorische, das Disqualifizierende und ganz und gar Unchristliche – einerseits darüber vom hochmoralischen Ross zu debattieren, ob Christen überhaupt in der AfD sein dürften und zugleich diese Partei immer wieder in einer amoralischen Grenzenlosigkeit mit dem Nationalsozialismus zu verquicken. Es ist eine himmelschreiende Geschichtslosigkeit. Man kann nicht einerseits immer wieder den Gotteskindstatus fanatischer Massenmörder betonen, und andererseits jemanden wegen einer – wenn auch dummen Aussage – sofort als Widertäter des Holocaust verleumden.
Es war dies, das mich auf eine andere Merkwürdigkeit hinwies: nämlich das Motto. Die Losung des Kirchentags heißt „Du siehst mich“. Es leitet sich aus Genesis 16 ab. Dazu lesen wir auf der offiziellen Seite:
„Angesehen sein, wahrgenommen werden. Diese Sehnsucht ist groß. Dafür schicken wir permanent Bilder von uns selbst in die Welt, per Selfie, Facebook und Whatsapp. Doch wirklich gemeint zu sein – das geht tiefer“, sagt Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au. „Aber welche neue Sprache brauchen wir, um gemeinsam über Dinge zu sprechen, die jeden Menschen in seinem Innersten bewegen? Wie können wir verständlich davon reden, dass wir glauben, dass Gott uns ansieht?“
Nun steht aber kein Vers der Bibel alleine da. Genesis 16: das ist die Geschichte von Abraham und Hagar. In Zeiten, in denen jene religiösen und mythischen Erzählungen, welche das eigentliche Fundament unserer abendländischen Zivilisation stiften, kaum noch bekannt sind, sollte daran erinnert werden, um was es in diesem Kapitel eigentlich geht: Abraham und seiner Frau Sarah bleiben Kinder verwehrt. Daraufhin gibt ihm Sarah die Magd Hagar, um es mit dieser zu versuchen. Kaum, dass Hagar schwanger ist, verliert sie den Respekt gegenüber ihrer Herrin. Sarah lässt sich das nicht bieten, und behandelt Hagar so hart, dass sie wegläuft. In der Wüste hält sie ein Engel des Herrn auf, dass sie zurückgehen solle; sie werde einen Sohn namens Ismael gebären, und dieser werde Stammherr zahlreicher Nachkommen. Hagar nennt darauf Gott: El-Roï (Gott, der nach mir schaut).
Aus dieser Begebenheit speist sich das Motto. Hagar ist damit gewissermaßen die Schutzpatronin dieses denkwürdigen Kirchentages. So weit, so gut – jedoch ist auch dies ein Bild, ähnlich wie die Ankunft des Messias aus dem Westen. Denn Jahre später bringt Sarah den Jungen Isaak auf die Welt. Ismael ist zwar der Erstgeborene, aber nur der Sohn einer Nebenfrau. Da Sarah um das Erbe ihres Sohnes fürchtet, verlangt sie von Abraham, Hagar und Ismael fortzuschicken. Isaak soll als einziger legitimer Sohn Alleinerbe werden. Gott sorgt jedoch dafür, dass Ismael und seine Mutter nicht verdursten, und hält sein Versprechen: Ismael wird der Stammherr von Fürsten und Königen. Seinen Bund schließt er jedoch nur mit Abraham und dessen Sohn Isaak.
Isaak wird damit zum Stammvater der Juden (und damit auch Christen), Ismael dagegen wird zum Stammvater der Araber (und damit auch der Muslime). Der Islam hebt dabei Ismael gegenüber Isaak heraus: nicht Isaak wird von Abraham geopfert und im letzten Moment von einem Engel gerettet, sondern Ismael.* Ismael wird mit seiner Mutter auch nicht in die Wüste geschickt, sondern bei der Kaaba in Mekka zurückgelassen, die er zusammen mit seinem Vater Abraham gebaut hat. Während sich in der Bibel die Rolle Ismaels auf die eines Vaters von Fürsten und Königen beschränkt, wird er im Koran als großer Prophet beschrieben. Der Islam macht damit deutlich, dass eigentlich der Erstgeborene Ismael als Stammhalter der Araber im Recht war, und nicht etwa Isaak. Der Erbstreit zwischen Juden und Muslimen lässt sich in dieser Geschichte ebenso zusammenfassen, wie der Anspruch darauf, die „wahre“ Religion weitergetragen und den eigentlichen Bund geknüpft zu haben. Wenn Sarah die Erzmutter der Juden und Christen ist, dann ist Hagar die Erzmutter der Muslime. Hagar ist damit der alte Anspruch, die wahren Erben Abrahams zu sein und den Willen Jahwes, bzw. Allahs zu erfüllen.
Einer Veranstaltung, die rigoros jedes Andenken an den Gekreuzigten vermeidet, ist kaum zu unterstellen, sie hätte irgendetwas Biblisches bei der Auswahl der Losung intendiert. Die Hintergründe dieser Stelle werden also der Mehrheit der Kirchentagsbesucher ebenso verschlossen bleiben wie der überwiegenden Zahl der Organisatoren. Die Anhänger jener Religion, die auf der Hadsch bis heute die Szene des Umherwandelns Hagars in der Wüste nachstellen, bevor sie zur Kaaba pilgern, dürften vermutlich als einzige diese Metapher verstehen. Im Kontext der Urheber der Christenverfolgungen bekommt das Motto dann allerdings einen eher faden Beigeschmack.
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*Obwohl im Koran der Sohn namenlos bleibt, ist die häufigste Deutung islamischer Gelehrter diese Variante. Dasselbe gilt übrigens für Hagar, die ebenso wie Sarah nicht mit Namen genannt, von den Gelehrten aber so interpretiert wird.