Der Konkursverwalter wechselt

15. Mai 2017
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Ironie | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Non enim sciunt quid faciunt | Persönliches | Regionalismus

Das gestrige Ergebnis kam überraschend. Hätte noch vor einem Monat jemand behauptet, die Sozialdemokratie würde in ihrem Stammland kollabieren – niemand hätte darauf gewettet. Woher die plötzliche Wechselstimmung kam, wird man im Nachhinein sicherlich anhand vieler schlauer Studien nachlesen können. Wer das von den Alliierten zusammengezimmerte Kunstprodukt zwischen Rhein, Ruhr und Weser jedoch etwas kennt, dem dürfte ins Auge fallen, dass dieses Land zerfällt und zerbröselt.

Nordrhein-Westfalen ist für jeden Regionalisten ein Ärgernis. Die Sozialdemokraten lieben es dagegen. Womöglich, weil dieses Bundesland schon so schön „bunt“ war mit seinen Westfalen und Rheinländern, deren Mentalität bereits weit auseinandergeht; die Konfession seit jeher gemischt; das Ruhrgebiet als früher „Meltingpot“ des Multi-Kulti, bevor dort die erste Moschee ihre Pforten öffnete. Hier wurde schon früh zusammengelegt, was nie zusammengehörte. Ein Menetekel. Es stellen sich die Nackenhaare auf, wenn der WDR auch gestern wieder von den „Nordrheinwestfalen“ oder gar „Nordrheinwestfalinnen“ spricht. Wer solche Ungetüme verbockt, der denkt auch, dass es zwischen einem afghanischen Hirten und einem vietnamesischen Fischer keinerlei Unterschiede gibt, und beide ganz zufrieden unter einem neuen Label einen unabhängigen Staat aufmachen können. Blanker Hohn: dass ausgerechnet diese preußischen Provinzen zusammenkamen, gründete sich nicht zuletzt auf wirtschaftliche Gründe. Die hochindustrialisierten Gebiete an Rhein und Ruhr – besser: ihre Fabrikbesitzer – wollten nicht auf die wirtschaftlichen Verflechtungen verzichten, welche sich im großen Preußenstaat ergeben hatten. NRW ist der Vorbote der gesichtslosen Makroregion ohne Identität, die als kleinere Verwaltungseinheit eines Überstaats ihren Dienst tut. Merken Sie sich das für die Transferunion.

Deutschland ist in der Welt für seine Infrastruktur berühmt. NRW dagegen ist dafür berüchtigt. Hier zehrt alles aus jener Zeit, als NRW die reichste Region der Republik war. Als Kohle und Stahl Geltung hatten. Die Autobahnen und die Rheinbrücken stammen allesamt aus den Wirtschaftswunderjahren. Jahrzehntelang hat man nichts daran getan. Köln ist nicht nur sicherheitstechnisch und kulturell ein Debakel: fahren Sie von Bonn mal in Richtung Domstadt oder gar weiter Richtung Ruhrgebiet. Ein einziger Spießroutenlauf. Sowohl die nördliche wie auch die südliche Rheinbrücke werden ausgebessert. Köln Ost samt A3 ist ein Stauherd. Kein Morgen, an dem nicht das Radio voll mit Meldungen ist über die Bauarbeiten und Staulängen. Es sind Pflaster, die man einem siechenden Körper anheftet. Die Unternehmen klagen über Gewinneinbrüche, Pendler verlieren dort tagtäglich ihre Nerven. Leverkusen ist nicht nur stadttechnisch die reinste Hölle: obwohl diese möglicherweise zweithässlichste Stadt Deutschlands mit Bayer einen der wichtigsten Dax- und Weltkonzerne beherbergt, staut sich aufgrund der maroden Infrastruktur der Verkehr am dortigen Kreuz. Dort mündet auch die A1 ein, deren Rheinbrücke nur noch für Fahrzeuge mit weniger als 3,5 Tonnen zugelassen ist. Wir reden hier nicht von einem unbedeutenden Übergang, sondern der wichtigsten Rheinbrücke Deutschlands, über die tagtäglich der Verkehr gen Benelux und Frankreich mühselig dahinschwappt. Voller Hohn starren einen dort die doppelten Blitzeranlagen an.

Es gibt wohl keinen sarkastischeren Wink des Schicksals, als jenen Tag, als die Limousine von „Landesmutter“ Hannelore Kraft vor dieser Rheinbrücke anhalten musste. Das gepanzerte (!) Fahrzeug war einfach zu schwer. Zustände wie in Drittweltländern. El Presidente kann mit seiner Karosse nicht die Brücke der glorreichen Revolution überqueren, weil sie sonst zusammenbricht. Das Problem wird natürlich vertagt, fahren wir stattdessen also nur noch mit leichteren Wagen drüber. Nichts mag in jüngster Zeit verdeutlichen, in welchem Zustand sich diese hochverschuldete Ansammlung zusammengekleisterter Territorien befindet.

Vom Ruhrgebiet wollen wir gar nicht erst anfangen. Auch dort dasselbe Spiel. Letztendlich verfällt im Rheinland nur das, was bereits zwanzig Jahre zuvor im Ruhrgebiet zerfallen ist. In solchen Momenten mag man an das Römische Reich im vierten Jahrhundert denken. Die Dekadenz ist sichtbar, Straßen und Städte zerfallen, aber so ganz vorbei ist es noch nicht. Die Ruinen kaiserlicher Infrastruktur zeigen sich, statt sie neu zu bauen, bessert man sie behelfsmäßig aus. Den großen Quadern der Adoptivkaiser weichen Tuff und Mauerwerk der späten Soldatenkaiser. Die Baumasse, auf welcher die SPD-Ministerpräsidentin nicht mehr fahren darf, stammt noch aus einer fernen Zeit, in der NRW nicht Stammland der Sozialdemokratie, sondern der Christdemokraten war. Kaum vorstellbar. Aber so war es wirklich: das waren die 50er und 60er, das war, als Adenauer Kanzler war. Was man sonst noch verwenden kann, stammt aus dem Kaiserreich. Bahnschienen, beispielsweise. Oder so ziemlich jedes Unternehmen in NRW, ob nun ThyssenKrupp, Veba (heute E.on), Bertelsmann, Aldi oder eben Bayer. Soviel übrigens zu Kontinuität, und wie viel wir dem Deutschen Reich eigentlich immer noch zu verdanken haben – auf einen vergleichbaren Wirtschaftsboom kann die Bundesrepublik wohl nur nach einem erneuten Krieg hoffen.

Die wunderschön mit farbenfrohen Graffiti verunstalteten Innenstädte, die im Bereich solcher Perlen wie Marxloh oder Bad Godesberg zum Abenteuerspielplatz für die ganze Familie ausgebaut wurden, haben nationalen Ruhm erlangt. Ebenso eilt der Ruf der gelehrten Schülerschicht bis weit nach Bayern. Hier hat jeder Abitur – aber keiner weiß so richtig wieso. Die Grünen zeigten in ihren Wahlwerbespots oftmals Windräder, Maislandschaften und glückliche Paare (meist homosexueller Natur) als Zukunftsprojekt für NRW. Das real-existierende NRW, das sich mit kurzer Unterbrechung andauernder grüner Politik erfreut, ähnelt dagegen so ziemlich jedem anderen sozialistisch regierten Land. Die Stadtästhetik mancher Ruhrmetropole lässt die Exotik Pjöngjangs aufleben, die ideologisierte Schulbildung triebe Stalin Tränen in die Augen. Verkehrsführung und Arbeitsmentalität öffentlicher Behörden erfreut sich oftmals kubanischem Laissez-faire; aufgrund der alternativen Beschilderung der Kölner Innenstadt mit seinen pittoresken Baustellen im Stile angolanischer Improvisation gelang mir jüngst das Kunststück, nicht einmal mehr die zentrale Domgarage zu finden.
Ansonsten haben wir hier zumindest am Rhein das feucht-subtropische Klima wie in Venezuela. Wer Köln oder Bonn nach einem Regenschauer im Sommer erlebt hat, weiß, was ich meine.

Das ist allerdings nichts gegen die Zustände weiter im Norden. In den versunkenen Städten von Duisburg, Dortmund oder Essen munkelt man von reichen Eliten, welche diese Ruinen aber einst gen Süden verlassen hätten. Eine weitere Geschichte besagt, fleißige Menschen hätten dort ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erarbeitet, Erfinder Entdeckungen gemacht und die ganze Republik als unaufhörliches, sich selbst drehendes Zahnrad am Laufen gehalten. Früher sollen hier sogar einmal Deutsche gelebt haben – oder wenigstens einigermaßen anständig gekleidete Leute, die ihren Lebtag nicht mit der Anbetung eines Fußballklubs auf der Couch verbrachten.
So hört man jedenfalls alte Märchen von den Lippen der Alten.

Gestern wechselte der Verwalter dieser Konkursmasse, die in jüngster Zeit zum Freizeitpark für Asyltouristen ausgebaut wurde. Man ist als Bürger darauf vorbereitet, bald Vieh auf dem Kölner Capitol grasen zu lassen. Erfahrungen hat man damit hier ja schon einmal vor anderthalb Jahrtausenden gemacht.

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