Bereits vor einem Monat erschien ein Artikel im Cicero, welcher darauf hinwies, dass das Losverfahren in einer Demokratie keine Alternative sei. Der Vorstoß zum Losverfahren geht auf den belgischen Historiker David van Reybrouck zurück; dessen Buch „Gegen Wahlen“ hatte eine kleine Debatte in der Medienlandschaft ausgelöst. Auf der Verlagsseite findet sich diese Zusammenfassung samt Video.
Zugegeben: ich habe mich nicht mit van Reybrouck beschäftigt und besitze auch das Buch nicht; aber es soll ja hier auch weniger um den Historiker gehen, als um den verlinkten Artikel. Und mit den Republiken Venedig und Florenz kennt sich der Verfasser dieses Beitrags wiederum recht gut aus, um mitreden zu können, da Autor Ortlieb Fliedner vom Cicero sich ja insgesamt gegen das (historische) Losverfahren ausspricht und nicht nur gegen van Reybroucks Ansatz. Das Stammpublikum weiß: natürlich nehme ich hier die venezianische Perspektive ein.
So irrt Fliedner bereits in seinem ersten Punkt:
„1. Wahlen ermöglichen Abwahl
[…] Nur die für eine begrenzte Zeit Gewählten können in regelmäßigen Abständen zur Rechenschaft gezogen werden. Denn das Wahlvolk kann die Verlängerung des Mandats bei jeder Wahl verweigern und eine neue Regierung legitimieren. Voraussetzung hierfür ist, dass die Gewählten die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und die Wähler erkennen können, wer für eine Entscheidung verantwortlich ist. In einer funktionierenden Demokratie wird dies durch klare und stabile Regierungsmehrheiten gewährleistet. Die Mitglieder der Bürgerversammlung übernehmen dagegen keinerlei Verantwortung für ihre Entscheidung und können auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. […]“
Letzterer Satz ist nachweislich falsch. Ob nun gewählt oder ausgelost, so wurden zumindest in der Republik Venedig Amtsträger nach Ablauf der Amtszeit immer zur Rechenschaft gezogen, besonders, wenn Sie im Verdacht von Korruption oder Vetternwirtschaft standen. Natürlich: nicht jedes Verbrechen wurde aufgeklärt. Dennoch gab es mit den Avorgadori di comun eine Einrichtung, die als Staatsanwaltschaft über die Einhaltung von Recht und Gesetz wachte. Es sei noch einmal wiederholt, was ich anderswo erwähnte: in Venedig gab es zwei Formen von Ämtern.
a) Mächtige Ämter, die auf kurze Zeit vergeben wurden. Meistens belief sich die Amtszeit nur auf ein Jahr oder sechs Monate; bestes Beispiel sind dafür die Dogenberater als Kontrollorgan des Dogen oder der Rat der Zehn mit seiner Kompetenzfülle, der im 15. und 16. Jahrhundert zur eigentlichen Regierung avancierte.
b) Repräsentative Ämter, die auf lange Zeit oder gar Lebensdauer verliehen wurden. Prestige spielte hier eine größere Rolle als praktische Machtpolitik. Beste Beispiele sind dafür die Prokuratoren von San Marco, der Großkanzler oder – mit Abstrichen – der Doge selbst.
Es sei dabei gesagt, dass die Mitglieder der ersten Gruppe nach einer Wahlperiode nicht erneut gewählt werden durften; so, wie schon im alten Rom kein Amtsträger danach erneut ein Amt anstreben durfte (die Amtszeit war also automatisch begrenzt, es bedurfte keiner Abwahl). Selbst ein mächtiger Dogenberater war danach wieder ein normales Ratsmitglied wie viele seiner Kollege. Konnte er sich vielleicht in seiner Amtszeit die Avorgadori vom Leib halten, so war er spätestens jetzt einer Prüfung ausgesetzt – und wurden zur Rechenschaft gezogen. Das galt übrigens auch für Flottenkommandanten oder Heerführer, die bei verlorenen Schlachten wegen Inkompetenz oder Hochverrat verklagt, eingesperrt oder hingerichtet werden konnten. Auch der Doge konnte abgesetzt werden (aber nicht selbst zurücktreten).
Selbst nach dem Tod blieb man von den Adleraugen der Avogardori nicht verschont: dem Dogen Leonardo Loredan wies man nach dessen Tod nach, sich während des Amtes bereichert zu haben, und forderte von den Erben 2.700 Dukaten – etwa umgerechnet 14 Jahresgehälter eines normalen venezianischen Arbeiters. Und das, obwohl Loredan dem Staat während seiner Amtszeit 90.000 Dukaten gespendet hatte! Ein Politiker, der während seiner Amtszeit Schindluder getrieben hatte, musste demnach damit rechnen, dass seine Angehörigen in Sippenhaft genommen wurden, um an seiner Stelle Rechenschaft zu büßen.
Historisch ist demnach fehlendes Verantwortungsgefühl streng geahndet worden. In Anbetracht des Zeitgeistes unvorstellbar: der Staat wandte sich in der Frühen Neuzeit nicht so sehr gegen die einfachen Leute, als vielmehr gegen die herrschende Elite. In Zeiten von Facebookzensuren und Maas’schen Umtrieben kaum vorstellbar. Andererseits kann man auch nur in solchen Zeiten, da der Leviathan lieber die Untertanen auspresst, statt sich seiner inkompetenten Amtsträger zu entledigen, auf die Idee kommen, das alte Ämterverfahren sei schlechter gewesen. Es bedürfte allerdings dann dem Aufbau einer modernen „Task-Force“ nach venezianischem Vorbild, die sich statt gegen Imad Karim oder andere Meinungsabweichler gegen den Justizminister wenden müsste.
Weiter im Text:
“2. Demokratie ist Diskussion in und mit der Öffentlichkeit
Die durch das Losverfahren zusammengesetzte Bürgerversammlung trifft – so der Vorschlag – ihre Entscheidungen autonom ohne irgendeinen Einfluss von außen. Eine öffentliche Diskussion mit den Mitgliedern vor und nach ihren Entscheidungen findet nicht statt.
Zum Wesen der Demokratie gehört aber, dass grundsätzlich politische Entscheidungen öffentlich diskutiert werden und sich die Gewählten dieser Diskussion stellen müssen, sowohl vor wie nach einer solchen Entscheidung. Demokratie ist Diskussion hat schon der Philosoph Masaryk prägnant formuliert. Meinungs- und Medienfreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sind deshalb tragende Säulen einer Demokratie. […]“
Die Passage amüsiert. Man muss nicht einmal historisch argumentieren, um zu erkennen, wie weit schon der heutige Verfassungsanspruch von der Verfassungsrealität entfernt ist. Inwieweit finden denn in der Öffentlichkeit noch „Diskussionen“ statt, die irgendeinen Bezug zum späteren Resultat haben? Wenn man im heutigen Deutschland Glück hat, darf man wenigstens noch über ein Thema reden, ohne gleich als Nazi bezeichnet zu werden, wenn man eine andere Meinung als die Regierung hat. Wir befinden uns bereits heute in einem Modus, in welchem Entscheidungen ohne Einfluss von außen getroffen werden – siehe Merkel Entscheidung zur Öffnung der Grenzen. Dass sich zudem Politiker von „äußeren Geschehnissen“ treiben lassen – beispielsweise einem Tsunami am anderen Ende der Welt, der dazu führt, dass man hierzulande ein „Energiewende“ einleitet – hat doch eher mit den gewählten Politikern zu tun, die über das mangelhafte demokratische System nach oben kamen, und solch staatsschädigende Entscheidungen fällen. Das wäre in der Tat ein ziemlich starkes Argument über den Wahlmodus nachzudenken – und damit Argument für das Losverfahren.
Oder machiavellistisch formuliert: Demokratie und Diskussion, gut und schön! Wie wäre es, wenn wir diese „Demokratie“ dann bei uns einführten?
Ähnliches ließe sich über den dritten Punkt sagen, nämlich, dass das Losverfahren die Demokratie gefährde: auch hier prallt der Wunsch nach dem Ideal der Demokratie mit der Realität zusammen. „Eine Demokratie muss deshalb Möglichkeiten und Anreize bieten, sich an ihr zu beteiligen. Wahlen sind da das vornehmste Mittel. Darüber hinaus gibt es viele weitere Möglichkeiten. Sie reichen vom Bürgerbegehren über Petitionen an das Parlament bis hin zur persönlichen Ansprache der Abgeordneten in ihren Sprechstunden.“ Auch wieder: schön und gut! Aber eben all diese Dinge haben wir ja im real existierenden Demokratismus, und dennoch befindet sich diese Form im Niedergang – sonst bräuchte es weder die Diskussion, noch diesen Artikel. Warum all diese Dinge – Bürgerbehren, Petitionen, persönliche Ansprache – zudem unmöglich sein sollten, wenn die Mitglieder von Bürgerversammlungen ausgelost statt gewählt werden, erscheint zumindest mir unverständlich. Die von Fliedner angeführte Weimarer Republik erscheint zudem als rein theoretisches Beispiel, da es dort kein Losverfahren gab; die Weimarkeule erscheint daher als ebenso merkwürdig. Der Untergang Athens oder die Herrschaft der Medici war nicht auf den Mangel an Demokraten zurückzuführen.
Weiterhin lesen wir:
„Auf ein Argument der Befürworter des Losverfahrens muss noch eingegangen werden. In Athen und den italienischen Stadtstaaten der Renaissance war das Losverfahren zur Besetzung von Ämtern üblich. Und für Aristoteles war nur das Losverfahren wirklich demokratisch. Diese Begründung verkennt jedoch den entscheidenden Unterschied von damals und heute.
In den vergleichsweise kleinen Gemeinden hatte das Losverfahren vor allem das Ziel, denen, die sich freiwillig um Ämter bewarben, die Chance zu eröffnen, ein Amt auch einmal zu bekleiden. Die Amtszeit dauerte deshalb nur ein Jahr und keiner durfte mehr als zweimal in seinem Leben dieselbe Funktion ausüben.“
Wir bleiben bei den italienischen Stadtstaaten. Hier gilt es gleich mehrere Mythen aufzulösen. Venedig, Florenz und Mailand waren zwar „Stadtstaaten“ in dem Sinne, dass sie meistens vom Patriziat der Hauptstadt regiert wurden; als Staatsgebilde waren sie jedoch weit größer als bspw. die verschiedenen antiken Poleis, deren Territorium im Umland endete. So hatte die Republik Venedig im 17. Jahrhundert immerhin 3 Millionen Einwohner – mehr, als damals in ganz Skandinavien zusammen lebten. Wenn man die Vorteile dieser Staaten benennt (kleinen Raum), sollte man allerdings auch die Nachteile nennen: nämlich den Mangel an heutigen Massentransport- und Massenkommunikationsmitteln, die vielleicht die Wahrscheinlichkeit klein halten, dass man selbst unter 80 Millionen an die Macht kommt, aber das Verfahren selbst heute möglich machte. Distanz spielte eine große Rolle, weshalb ein Nobile aus der Ferne seine Rechte nicht in der Hauptstadt wahrnehmen konnte – heute ist das anders.
In den italienischen Städten war auch das Losverfahren nicht etwa dazu da, allen Menschen die Chance auf ein Amt zu ermöglichen; da ein Amt keine Besoldung versprach, sondern als reines Ehrenamt galt, mussten die Gewählten so vermögend sein, dass sie während ihrer Amtszeit ohne Bezahlung überleben konnten. Üblicherweise musste ein Amtsträger während seiner politischen Laufbahn die Geschäfte ruhen lassen. Dies führte langfristig dazu, dass nur die vermögende Elite wählbar erschien; später wurde dieser de facto Status de jure fixiert, meistens durch einen Eintrag in ein Register, in welcher die Familien standen, die als einzige gewählt werden konnten. Dieses Patriziat machte nur noch einen geringen Bruchteil der Bevölkerung aus. Das Losverfahren war aber in diesen Systemen nicht dazu da, jedem die Wahl zu eröffnen, sondern vor allem, um Korruption, Vetternwirtschaft und Netzwerke aufzuweichen. Ein kurzer Blick auf das Wahlverfahren des Dogen:
Man sieht: hinter so einer komplexen Konstruktion steht mehr als bloßes „jeder kann Doge sein“. Die Lostrommeln sollten gewährleisten, dass keine Absprachen stattfanden und eine bestimmte Familie oder ihre Verbündeten immer wieder gewählt wurden. Das verhinderte einen Bund Grauer Eminenzen, die immer wieder ihre Politik durchsetzen konnten; es gab keine „alternativlose“ Politik, die von derselben Kaste immer wieder verordnet wurde, der Zufall machte dies höchst unwahrscheinlich. Andererseits sollten die Zuwahlen dafür sorgen, dass der Kandidat nicht unannehmbar für den Großen Rat war, und auf den Konsens der Wählenden traf.
Demnach: Wahlkampagnen wie in den USA, bei der im Voraus bedeutende Rüstungsunternehmen, Banken oder sonstige einflussreiche Lobbyverbände einen Kandidaten unterstützten, um diesen mit hunderten Millionen Dollar zu unterstützen, blieben in so einem System sinnlos, weil niemand vor den letzten Zuwahlen überhaupt mit Sicherheit wusste, wer der Favorit sein konnte. Natürlich gab es Absprachen – so veräußerten verarmte venezianische Nobili ihre Stimmen im Voraus an reichere Mitglieder des Rates, um im Fall eines bestimmten Kandidaten für diesen zu stimmen. Diese Absprachen fanden am „Broglio“ statt, einem Platz am Dogenpalast; das italienische Wort „imbrogliare“ (betrügen) rührt von dieser Anekdote. Es handelte sich hierbei jedoch nicht um Netzwerke im engeren Sinne und vor allem um einen Missstand, der gegen Ende der Republik auftrat. Zudem setzte auch dieser „Betrug“ voraus, dass der gewünschte Dogenkandidaten am Ende auch nominiert wurde, um zuletzt vom Rat gewählt zu werden.
Wie schon häufiger erwähnt: Venedig war keine Demokratie. Aber Venedig war eine Republik mit republikanischen Tugenden, die den Selbsterhalt des republikanischen Systems bis zum Ende durch Revolutionstruppen gewährleistete. Was dem republikanischen Ethos widersprach wurde zutiefst bekämpft. Gegenseitige Kontrolle und Einschränkung von Machtbefugnissen hatten oberste Priorität. Das Wahlvolk war dabei nicht das Staatsvolk, sondern die Nobili; aber auf eine Demokratie angewandt hätte das bedeutet, dass das Wahlvolk eine große Palette an Instrumenten besaß, die Regierenden wieder zur Raison zu rufen, wenn diese gegen das Gesetz oder das Wohl der Republik agierten – Werkzeuge im Übrigen, von denen der heutige Bürger nur träumen kann.
Damit einen Schritt weiter. Was Fliedner wie auch viele andere Theoretiker der Demokratie vermutlich übersehen, aber insbesondere in den Punkten 2 und 3 auffällig wird: die Demokratie scheitert immer wieder an denselben Problemen. Die grundlegende Krankheit der Demokratie bleibt über alle Äonen dieselbe: da die Demokratie von Kompromiss, Mittelweg und Mittelmaß lebt, muss sie auf Dauer degenerieren. Das galt für die antiken Stadtstaaten wie die italienischen Stadtrepubliken. In Athen wie in Florenz ging sie zugrunde, in Venedig dagegen gab es nie eine echte Demokratie, sondern eine Mischform aus meritokratisch-aristokratischen (aristokratisch ist hier im Sinne der „Besten“ zu verstehen), oligarchischen und monarchischen Elementen. Eben letztere Mischform ist der Grund dafür, dass die Löwenrepublik über Jahrhunderte jene innenpolitische Stabilität gewährleistete, welche dem Rest Italiens fremd blieb.
Die welterlösende Überzeugung, dass die Demokratie ewig und siegreich ist, bleibt das größte Problem in einer unideologischen Diskussion über die Zukunft der westlichen Staaten. Die demokratische Herrschaftsform ist – historisch betrachtete – eine des Übergangs. Monarchien und einige Ausnahmerepubliken wie die Schweiz oder Venedig haben die Welt geprägt, nicht Demokratien vom Typ der Bundesrepublik. Selbst viele europäische Demokratien haben mit ihren Königen ein stabilisierend-monarchisches Element (wie das UK oder die Niederlanden), das im Notfall als letzter Anker vor Degeneration zu schützen vermag. Fukuyamas Theorie vom Ende der Geschichte und die gefährliche Überzeugung, am Ende würden alle Staaten auf die demokratisch-freiheitliche Linie des Westens einschwenken, ist blind wie gefährlich, besonders, da Europa mit seiner Bevölkerung nicht einmal mehr 10% der Weltbevölkerung ausmacht. Jeder neue Ansatz scheint dabei begrüßenswert; alten Strukturen nachzutrauern, oder diesen eine Strahlkraft zuzudichten, die sie realiter gar nicht (mehr) haben, sind dagegen alles andere als nützlich, wenn man wenigstens die Grundkonstruktionen des alten Systems retten möchte. Wer nicht rechtzeitig reformiert, wird zuletzt radikal revolutioniert. Das Losverfahren könnte dabei wenigstens eine Möglichkeit sein, um das Kartell einer Clique und verschiedener Netzwerke zumindest einen Spalt weit aufzubrechen.
Ganz zu schweigen davon, dass bei einem Verfahren nach venezianischer Art die Wahl von Martin Schulz allein der Wahrscheinlichkeiten wegen ebenso gering wäre wie die Wiederwahl von Angela Merkel – allein das wäre Anlass, das Experiment zu wagen.