Steinmeiers Rede als Sammlung postfaktischer Fake News

27. März 2017
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Freiheit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Non enim sciunt quid faciunt

Deutschland hat seit einigen Tagen einen neuen Bundespräsidenten. Ex-Außenminister Steinmeier hielt dazu eine Antrittsrede, die so unerträglich wie unergiebig genannt werden darf. Dennoch kommt man nicht umhin, sie zu thematisieren. Der Schwerpunkt lag nicht zuletzt auf den innenpolitischen Problemen. Nur Stunden nachdem Steinmeier noch den Topos der rechten Gefahr beschworen hatte, wütete in London neuerlich die Religion des Friedens, als wollte das Schicksal selbst Steinmeier Lügen strafen, wer die eigentliche Bedrohung Europas sei.

Folgend: ein paar Kommentare. Aussparungen betreffen den Anfang (Begrüßung Gaucks), die Aussagen zu Erdogan und Yücel, eine Anekdote um Schimon Peres sowie den Schluss.

[…]

Aber, meine Damen und Herren, machen wir es uns nicht zu einfach! Die Anfechtung der freiheitlichen Demokratie findet nicht nur bei anderen statt – weit westlich und östlich der europäischen Grenzen.

Er schlägt den Teufel zwar immer noch, nennt ihn aber nicht mehr. Wenn man Gefahr läuft, dem leibhaftigen Trump mal zu begegnen, wird man plötzlich doch etwas kleinlauter.

Die Wahrheit ist doch: Eine neue Faszination des Autoritären ist tief nach Europa eingedrungen. So sehr ich mich freue über unsere niederländischen Nachbarn, dass sie den Angriff auf ihre demokratischen Traditionen in der Wahlkabine zurückgeschlagen haben – für übergroße Gelassenheit besteht kein Anlass!

Wer hat die demokratischen Traditionen der Niederlande angegriffen? Wenn Wilders gemeint ist – was sind anti-demokratische Punkte, die er vertritt? Und wenn er zurückgeschlagen wurde, von wem? Von Ruttes Partei, die ihre Regierungskoalition und mehrere Parteisitze verloren hat, oder doch eher von den Sozialdemokraten, die am Wahlabend zur Unkenntlichkeit pulverisiert wurden?

Geht uns das was an in Deutschland? Ich denke: ja. Wir können uns nicht zurücklehnen, uns gegenseitig auf die Schulter klopfen und Noten für andere verteilen. Wir leben nicht auf einer Insel! Die weltweiten Trends wirken auch bei uns. Und unsere Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns nicht etwa immunisiert. Im Gegenteil: Die Geschichte der Märzrevolution, an die erinnert wurde – und erst recht die der Weimarer Republik –, zeigen doch, dass die Demokratie weder selbstverständlich noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist. Dass sie – einmal errungen – auch wieder verloren gehen kann, wenn wir uns nicht um sie kümmern.

Und den Brexit, Trump oder das Wahlverhalten der Niederländer zu kritisieren bzw. zu loben – das ist kein „Noten verteilen“? Wobei: verglichen mit der missionarischen Aufforderung – einer Wiederauflage von am deutschen Wesen soll … ach, lassen wir das – wünschte man sich, Deutschland und Steinmeier beließen es bei der bloßen Notenvergabe!

„Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“, so hat es Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede ausgedrückt. Ja, sie steht unter lautem Beschuss von Radikalismus und Terrorismus. Vom Machthunger der Autokraten, die – rund um die Welt – einer freien Zivilgesellschaft die Luft zum Atmen rauben.

Achten Sie auf die Parole „Terrorismus“ und in den folgenden Abschnitten darauf, wer genannt wird. Ich nehme es vorweg: der Islam wird nicht vorkommen. Wen insiniuiert Steinmeier also als Täter?

Und es gibt auch das andere, die schleichende Erosion von innen: durch Gleichgültigkeit, Trägheit und Teilnahmslosigkeit; und die Anfechtung durch jene, die Parlamente und demokratische Institutionen nicht mehr als Ort für politische Lösungen sehen wollen, sondern als Zeitverschwendung diskreditieren – und das politische Personal gleich mit.

Wer behauptet irgendwo, dass das Parlament nicht mehr Ort für politische Lösungen sein soll? Um es in den Worten Steinmeiers zu sagen: wovor hat er Angst?

Populisten erhitzen die öffentliche Debatte durch ein Feuerwerk von Feindbildern, laden ein zum Kampf gegen das sogenannte Establishment und verheißen eine blühende Zukunft nach dessen Niedergang. Es gibt in Deutschland keinen Grund für Alarmismus. Das nicht. Aber ich sage mit Blick auf das, was sich da tut, mit großer Ernsthaftigkeit: Wir müssen über die Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten!

Nur Populisten? Was hat Steinmeier in den Absätzen zuvor getan? Wie hat Steinmeier nochmal den US-Präsidenten bezeichnet?

Streiten für Demokratie ist nicht Sache der Politik allein. Aber Politik muss verstehen, dass die Zeiten besondere sind: Zeiten, in denen alte Gewissheiten verschwunden und neue nicht an ihre Stelle getreten sind. Zeiten, in denen internationale Konflikte Sorge um den Frieden und um die Sicherheit im eigenen Land auslösen. Zeiten, in denen Eltern sich fragen, ob es ihren Kindern noch genau so gut gehen wird wie ihnen. Wir leben in Zeiten des Übergangs. Wie die Zukunft wird, darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Da ist die Zukunft eben nicht „alternativlos“. Im Gegenteil: Die Zukunft ist offen, und sie ist überwältigend ungewiss!

Mehr Plattitüden gehen nicht. Wann war die Zukunft je gewiss? Wann haben internationale Konflikte nicht die Sorge um die Sicherheit im eigenen Land ausgelöst? Die Bundeswehr rührt aus den Zeiten des Korea-Konflikts.

Diese Offenheit, die bei den einen Hoffnung auslöst, jagt anderen Angst ein! „Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, leugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche“, so schreibt Heinz Bude. Und: Der Ängstliche ist anfällig für die Lockrufe jener, die immer mit ganz einfachen Antworten zur Stelle sind. Mir scheint: Das Angebot an einfachen Antworten steigt im Wochenrhythmus. Dabei könnten wir doch wissen: Die einfachen Antworten sind in der Regel keine Antwort. Wer soll denn glauben, dass in einer Welt, die komplizierter geworden ist, die Antworten einfacher werden? Wer soll denn glauben, dass nach dem blutigen 20. Jahrhundert und den Lehren aus zwei Weltkriegen die alten Muster von Abschottung und nationaler Eiferei die Welt friedlicher machen? Die neue Faszination des Autoritären, auch die in Teilen Europas, ist am Ende nichts anderes als die Flucht in die Vergangenheit aus Angst vor der Zukunft. Das kann – und das darf nicht unser Weg sein!

Gegenmeinungen sind nicht etwa Kritik, sondern Angst. Den Topos kennen wir ja. Wer eine andere Meinung hat, hat es entweder nicht kapiert, oder ist psychisch gestört. „Diffuse Ängste“ und so. Psychopathologisierung Anderersmeinender scheint in dieser Welt der „Offenheit“ ganz rechtmäßig.

Im Wochenrhythmus steigen übrigens nicht nur die einfachen Antworten, sondern auch Überfälle, Vergewaltigungen und Morde. Dass die Abwehr „einfacher Antworten“ ein Scheinargument ist, führte ich schon vor einiger Zeit aus. Die Welt ist übrigens „nicht komplizierter“ geworden, wir nehmen sie nur aufgrund zahlreicherer Medien, Sichtweisen und schärfer gegeneinander agierender Weltsichten als komplizierter wahr.

Es bleibt ein Geheimnis, welche Geschichtsbücher Steinmeier gelesen hat. Inwiefern „Abschottung“ das Attentat von Sarajewo oder den Überfall auf Polen ausgelöst hat – das würde jedoch den geneigten Leser schon interessieren.

[…]

Das mag den einen oder anderen frustrieren. Aber das Gebäude der Demokratie ist nie vollständig errichtet. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit und liefert in aller Regel auch nur Lösungen auf Zeit. Eine kluge Frau aus Indien gab mir dazu einmal den tröstenden Rat: In der Rechtschreibung der Politik gibt es keinen Punkt –– sondern immer nur das Komma.

Nein, Republikanismus ist Herrschaft auf Zeit. Wäre Demokratie Herrschaft auf Zeit, wäre Steinmeier nicht seit 1999 – mit einer vierjährigen Unterbrechung während der Koalition aus Union und FDP – Minister, und würde jetzt nicht noch einmal 5 Jahre das Amt des Bundespräsidenten bekleiden. Er ist das lebende Gegenbeispiel der selbst aufgestellten These.

Aber muss uns das eigentlich frustrieren? Oder ist das nicht gerade die Stärke der Demokratie? Demokratie ist die einzige Staatsform, die Fehler erlaubt, weil die Korrekturfähigkeit miteingebaut ist. Die Stärke von Demokratien liegt nicht in ihrem Sendungsbewusstsein, sondern in ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstverbesserung!

Quod erat demonstrandum.

• Wo denn sonst als in der Demokratie können so unterschiedliche Interessen von Alt und Jung, Stadt und Land, Wirtschaft und Umwelt friedlich zum Ausgleich gebracht werden?

• Wo denn sonst als in der Demokratie begegnen sich Bürger unabhängig von ihrer Herkunft als Gleiche und Gleichberechtigte?

• Und wo sonst als in der Demokratie, wo Minderheiten Stimme und Gehör finden, soll uns die gewaltige Aufgabe der Integration gelingen?

Nur in der Demokratie kriegen wir all das hin; das ist ihre Stärke und deshalb brauchen wir sie!

Das ist so auch alles in einer Monarchie preußischer Prägung möglich. Historisch betrachtet völliger Nonsens. Gewöhnlich sagt man: tertium non datur. Hier ist es wohl schon secundum non datur.

Defizite benennen und um Lösungen ringen – das ist anstrengend. Demokratie ist eine anstrengende Staatsform – und sie ist zugleich ein Wagnis: Wir trauen einander zu, uns selbst zu regieren! Herrschaft aus dem Volk, durch das Volk und für das Volk – so hat es uns ein großer amerikanischer Präsident gelehrt – ein Republikaner übrigens.

Wie viele Stimmen hat Steinmeier bei der allgemeinen freien Wahl durch „das Volk“ noch einmal bekommen?

Das mag dem einen oder anderen zu idealistisch klingen. Aber dahinter steht doch die tiefe Einsicht, dass die Flucht vor den Anstrengungen der Demokratie nicht zu besserer Politik führt. Auch und gerade nicht von denen, die von sich behaupten, im Namen des „eigentlichen Volkes“ oder der schweigenden Mehrheit zu sprechen gegen „die da oben“.

Das Staatsoberhaupt, gewählt in einer Kaffeerunde aus ein paar hundert Delegierten ohne echten Gegenkandidaten, jeglicher Volkskontrolle enthoben, spricht.

Vergessen wir nicht: Nirgendwo wurde die Idee der Volksherrschaft so verheerend missbraucht wie bei uns – in eins gesetzt mit Partei, Rasse oder Gesinnung.

Bei letzterem gehe ich mit. Scheint aber eine durchgängige Krankheit seit dem 19. Jahrhundert zu sein. Sie wuchert heute immer noch.

Demokratie aber kennt das Volk nur in seiner ganzen Vielfalt. Deshalb: Wer heute in Deutschland seinen Sorgen Luft macht und dabei ruft „Wir sind das Volk!“, der darf das gerne – aber der muss auch hinnehmen, dass andere Leute mit anderen Ansichten diesen stolzen Satz genauso beanspruchen. So wie ich das vor ein paar Monaten in Dresden gesehen habe, wo eine bunte Truppe junger Leute ein Plakat in die Höhe hielt, auf dem ganz gelassen stand: „Nö – wir sind das Volk“.

Jedweder Kommentar überflüssig.

Genauso ist es! In der Demokratie tritt das Volk nur im Plural auf, und es hat viele Stimmen.

Rein abgesehen davon, dass sich mancher Professor der Germanistik gerade im Grab umdreht: mancher Psychologe möchte hier Schizophrenie attestieren.

Nie wieder darf eine politische Kraft so tun, als habe sie allein den Willen des Volkes gepachtet und alle anderen seien Lügner, Eindringlinge oder Verräter. Und deshalb ist meine Bitte: Wo immer solche Art von Populismus sich breit macht – bei uns im Land oder bei unseren Freunden und Partnern – da lassen Sie uns vielstimmig dagegenhalten!

Außer, Sie verbreiten Fake News, behelfen sich bösartiger Hass-Sprache samt Hass-Kriminalität, haben abweichende Vorstellungen oder sind einfach nur „Pack“. In der SPD von Gabriel und Maas kennt man sich da ja bestens aus.

Wir navigieren in unbekannten Gewässern; ob wir nach Osten oder Westen schauen: Wir steuern zu auf unkartiertes Gelände. Oftmals werden wir Antwort geben müssen, ohne uns an andere anlehnen zu können. Das verlangt Selbstbewusstsein.

Aber noch viel mehr verlangt es Mut! Mut nach vorn in Richtung Zukunft zu denken – nicht darauf zu hoffen, die Antworten in der Vergangenheit zu finden. Mut, unsere Geschicke selbst in die Hand zu nehmen – ohne Monarch oder „großen Bruder“ oder selbsternannte „starke Männer“. Mut ist das Lebenselixier der Demokratie – so wie die Angst der Antrieb von Diktatur und Autokratien ist. Deshalb: Die Staatsform der Mutigen – das ist die Demokratie!

Die Demokratie braucht Mut auf beiden Seiten – auf der Seite der Regierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden. Denn nur wer selber Mut hat, kann andere ermutigen, und Mut erwarten. Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie über die Sorgen der Menschen, über politische Fehlentwicklungen und offene Fragen nicht ebenso offen redet. Wir leben in hoch politischen Zeiten! Das verlangt den Mut, zu sagen, was ist – und: was zu tun ist!

Tapferkeit ist wieder – zusammen mit Tüchtigkeit – ein Merkmal der Republik, nicht der Demokratie. Man fragt sich allerdings, wo in der Regierung diese „Mutigen“ sitzen? Sind es etwa Merkel, Gabriel oder Seehofer, die allesamt keine „unschönen Bilder“ riskieren wollten, als es darum ging, Verantwortung zu übernehmen? War es Mut, welcher die Regierenden dazu brachte, Millionen ins griechische Fass zu schütten, obwohl endlos? War es Mut, als es darum ging, eine katatsrophale Zinspolitik in die Wege zu leiten? War es Mut, als man mit Erdogan verhandelte?

Mut widerspricht – aus historischer Sicht – der Demokratie. Eben weil – wie Steinmeier so stolz ausführt – hier der Kompromiss herrscht. Kompromisse sind aber nie mutig, sondern Verhandlungssache. Das widerspricht der Tugend als solcher. Man kann nicht nur ein „bisschen gut“ und „ein bisschen“ böse sein. Ebenso wenig kann man nur ein „bisschen“ mutig sein. Das ist aber das Wesen der Demokratie, dass sie nicht Fisch, nicht Fleisch in der Politik ist und das Mittelmaß gegenüber dem Extrem bevorzugt. Daher wohnt ihr auch kein Mut inne – was ja gerade die Riege um Steinmeier, Altmaier, Gabriel, Merkel und Konsorten so bildhaft zeigt.

Im Übrigen: welche Antworten hat denn die Regierung bisher gegeben, außer: „Wir schaffen das“, „Deutschland bleibt Deutschland“ oder „Dann ist das nicht mehr mein Land“?

• Wie gelingt Integration? Wie, lieber Herr Gauck, bringen wir sie überein: unser weites Herz und unsere endlichen Möglichkeiten?

• Wie erneuern wir das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung, das mich persönlich und ganz viele in meiner Generation auf den Weg gebracht hat?

• Wie erhalten wir Hoffnung dort, wo im Dorf Schule, Arzt, Friseur und Tankstelle längst geschlossen sind und jetzt auch noch die letzte Busverbindung eingestellt wird?

• Wie schaffen wir ethische Standards – auch in der Wirtschaft –, die das Oben und Unten in der Gesellschaft verbunden halten? Damit oben nicht nach Regeln entschieden wird, die von den Menschen als unanständig empfunden werden. Ein führender Vertreter der deutschen Wirtschaft schreibt diese Woche in der ZEIT: Wo Abfindungen und Bonuszahlungen nur noch „Fassungslosigkeit“ hervorrufen, sollten wir die Debatte darüber nicht „vorschnell als Neiddebatte abtun“.

In der Tat: Es geht um das gemeinsame Interesse, dass das Vertrauen in unsere wirtschaftliche und politische Ordnung nicht insgesamt Schaden nimmt.

Wir merken uns: wenn Steinmeier „Antworten“ gibt, wirft er Fragen auf.

Der Bundespräsident hat zu alledem keine Vorschläge zu machen. Aber die lebendige Debatte darüber braucht die Gesellschaft! Führen wir sie nicht, dann – sage ich voraus – werden Populisten unterschiedlicher Couleur sie gegen die Demokratie verwenden!

Wir lernen: der Bundespräsident meint, dass die Politik Antworten geben muss, aber sieht sich selbst dafür nicht zuständig. Stimmt ja auch, Fragen stellen ist einfacher. Ob man dann als Staatsoberhaupt an der richtigen Stelle sitzt, sollte jeder für sich selbst beantworten.

Und dafür brauchen wir eine Kultur des demokratischen Streits!

Genau. Setzen wir uns doch noch einmal jahrelang hin und reden drüber. Das ist genau das, was der Bürger will: sich noch einmal anhören, warum er nur diffusen Ängsten folgt.

Selten werden wir alle derselben Meinung sein. Umso wichtiger ist, dass wir das gemeinsame Fundament von Demokratie pflegen, aber die Auseinandersetzung über Ideen, Optionen, Alternativen nicht scheuen. Wir brauchen das Dauergespräch unter Demokraten – nicht die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten. Warum nicht mal mit denen sprechen, die Facebook uns nicht als Kontakt vorschlägt? Warum nicht überhaupt mal den Blick vom Smartphone heben und ins wirkliche Leben schauen?

Oh, gerne. Dumm nur, dass man meistens von der anderen Seite häufig geblockt und entfreundet wird, wenn man sich außerhalb der Blase bewegt. Aber jetzt mal prinzipiell: der Bundespräsident spricht von Antworten auf wichtige Fragen, stellt dann selbst nur Fragen, und redet jetzt von Gesprächen in sozialen Netzwerken?

Ich will, dass diese Gesellschaft miteinander im Gespräch bleibt. Der Raum von Demokratie: das ist einer, in dem viele zu Wort kommen müssen, ja – in dem es aber auch ein paar geben muss, die zuhören. Ich will, dass wir uns rauswagen aus den Echokammern, auch aus mancher Selbstgewissheit der intellektuellen Ohrensessel. Und erst recht aus der Anonymität des Netzes, wo die Grenze zwischen Sagbarem und Unsäglichem immer mehr schwindet, wo eine Sprache von aggressiver Maßlosigkeit herrscht und täglich neue Erregungswellen erzeugt. Und vor allem will ich, dass wir in Deutschland festhalten am Unterschied von Fakt und Lüge. Wer das aufgibt, der rührt am Grundgerüst von Demokratie!

Womöglich sollte man diesen Eintrag an den Bundespräsidenten verschicken.

Vor einigen Monaten fragte mich ein prominentes Mitglied dieses Hauses – wohlgemerkt ganz wohlwollend: „Herr Steinmeier, nach so vielen Jahren in der Politik – können Sie da eigentlich neutral sein“?

Die ehrliche Antwort ist: Nein, ich bin nicht neutral. Überparteilich ja, wie es das Amt verlangt. Aber neutral darf ich gar nicht sein, wenn es um das Grundsätzliche geht. Deshalb sage ich Ihnen: Ich werde parteiisch sein – parteiisch für die Sache der Demokratie!

Partei ergreifen werde ich auch für Europa! Und ich freue mich über die vielen Menschen, die in diesen Tagen auf die Plätze gehen und uns den Puls von Europa wieder spüren lassen!

Heißt: ich unterstütze vor allem die Leute, die meiner Meinung sind und nehme die „andere Blase“ nicht ernst. Sehr gut. Sehr gut, Herr Bundespräsident.

Sie erinnern uns daran, wie viel gerade wir Deutsche dem vereinten Europa zu verdanken haben: die Rückkehr unseres Landes in die Weltgemeinschaft; Wiederaufbau, Wachstum und Wohlstand; und vor allem: 70 Jahre Frieden! Das verdanken wir denen, die nach 1945 Mut hatten und die richtigen Lehren aus Jahrhunderten von Kriegen gezogen haben.

Das „vereinte Europa“? Habe ich etwas verpasst? „70 Jahre Frieden“? Wegen der EU, die erst 1993 gegründet wurde? Die EU, die sich mit deutschem Vorpreschen maßgeblich am Krisenherd in der Ukraine beteiligte, zuvor schon im Jugoslawienkrieg keine gute Figur machte? Natürlich, seit 1945 bewahrt ein Konstrukt den Frieden in Europa, das es so erst seit einem Vierteljahrhundert gibt – und nicht etwa die NATO bzw. im Kalten Krieg der Warschauer Pakt und das atomare Gleichgewicht des Schreckens, einhergehend mit dem Risiko, die gesamte nördliche Hemisphäre in eine radioaktiv verstrahlte Trümmerwüste zu verwandeln.

Mut zu Europa – den brauchen wir auch heute. Es ist ja richtig: Europa ist weit entfernt davon, perfekt zu sein. Und das wissen wir auch nicht erst seit dem Brexit. Wir dürfen nicht schönreden, was schlecht läuft. Und selbstverständlich ist dringend Zeit für mutige Reformen! Dabei muss vielleicht auch nicht jedes Detail des institutionell verfassten Europas mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.

Aber denen, die heute meinen: „Ach, ich habe dieses Europa über – lieber zurück hinter die vertrauten Butzenscheiben der Nation“ – denen sage ich: Das ist zu einfach, und das ist der falsche Weg! Jean-Claude Juncker hat gesagt: „Wir haben nicht das Recht, gegeneinander patriotisch zu sein.“ Ich sehe es genauso: Aufgeklärter Patriotismus und Einstehen für Europa, das geht Hand in Hand. Denn – auch wenn wir es nicht so nennen – für viele unserer Kinder ist Europa längst ein ‚zweites Vaterland‘ geworden! Deshalb lassen Sie uns Partei ergreifen – für ein besseres Europa; eines, das für die politische Freiheit steht; das sein Gewicht einsetzt für eine friedlichere und gerechtere Welt und für gute Nachbarschaft! Dafür will auch ich gerne streiten – mit möglichst vielen von Ihnen!

Ich will zu denen, die nach ihrem wohlverdienten Feierabend in Kommunalparlamenten um das Schwimmbad oder die Bücherei in der Nachbarschaft ringen; zu den kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf den Märkten der Welt bestehen müssen, aber die zugleich Verantwortung für ihre Mitarbeiter und Heimatregionen zeigen; zu den Betriebsräten, die geholfen haben, dass Unternehmen auch die Krisenjahre überstanden haben und die darauf achten, dass es fair zugeht in den Betrieben; zu denen, die in Kindergärten vorlesen oder im Hospiz Sterbende begleiten; und wenn ich allein alle diejenigen, die sich bis zur Erschöpfung für Flüchtlinge engagiert haben, mit einem Orden auszeichnen wollte – und glauben Sie mir: das würde ich gern – dann wäre allerdings schon jetzt klar, womit ich die nächsten fünf Jahre vollauf beschäftigt bin.

Doch das muss ich gar nicht. Denn wenn ich mit Feuerwehrleuten, Rot-Kreuz-Helfern, Jugendtrainern oder Kirchenvertretern spreche: Die warten nicht auf Orden. Sondern die sagen mir: „Worum’s uns geht, ist nicht, was Du für Dich selber rausholst, sondern was Du für andere reingibst!“

Es sind viele Millionen in unserem Land, die sich um mehr kümmern als um sich selbst; die Verantwortung übernehmen für die Nachbarschaft, das Dorf, die Region; die helfen, wo Hilfe nötig ist. Nichts ist wertvoller als das, und das macht mich stolz auf unser Land und seine Menschen. Und weil das einzigartig ist und uns von vielen anderen Ländern unterscheidet, bin ich mir eben so sicher, dass wir den Stürmen der Zeit trotzen und unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft schenken werden!

Wo waren Sie eigentlich die letzten 20 Jahre Herr Steinmeier, als all diese Sachen passierten, Krisenjahre, Kampf gegen globalisierte Märkte, bei der Flüchtlingshilfe? Ach, ich Schelm – in der Regierung! Während also der gemeine Bürger das ausbadet, was Sie zu verantworten haben, und steuerlich noch um den letzten Kreuzer ausgezogen wird, bleibt Ihnen mal wieder die „Macht der warmen Worte“. Das ist kein Zynismus, das ist Volksverachtung, heruntergebrochen auf die Lage des Landes.

Denn: wie viele Flüchtlinge haben Sie aufgenommen, Herr Steinmeier? Wie häufig haben Sie sich ehrenamtlich engagiert? Wie oft haben Sie Menschen in Lohn und Brot gebracht? Wie lange haben Sie gearbeitet, ohne in irgendeiner Weise von Steuergeldern abhängig zu sein? Wie oft haben Sie als „Demokrat“ sich mal wirklich Widerstand entgegenstellen müssen – und eben nicht einem Grüppchen von zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung, das medial wie politisch unterrepräsentiert ist, dazu aus der Deckung von Staatsmedien und einer politisch abgesicherten Zwei-Drittel-Koalition?

Wie schwierig ist es eigentlich, den Rebell und Wohltäter zu markieren, wenn man auf Seiten von Regierung und Macht steht, und jahrelang an vorderster Front derer stand, welche die hart erarbeiteten Gaben des Volkes an Interessengruppen verteilt hat? Und wie einfach ist es eigentlich, von „Autoritären“ zu sprechen, wenn Sie selbst in Ihrer Rede Gegenmeinungen als „Ängste“ abkanzeln, Antworten versprechen, aber dann wieder in warme Luft ausweichen? Und welche Demokratie ist das eigentlich, die Sie verteidigen, in der Sie ohne ernstzunehmenden Gegenkandidaten von einer Versammlung nicht gewählt, sondern ernannt wurden?

Es soll an dieser Stelle genug sein. Das Große und Ganze ist hier dargelegt. Ich neige nicht zu Wiederholungen, aber auch nicht zu Sprüchen wie „Nicht mein Präsident“. Aber Steinmeier will anscheinend auch nicht der Präsident aller sein, sondern eben nur der „Demokraten“. Und er zeigt keinerlei Gespür für die aktuellen Probleme Deutschlands oder gar die wirkliche Bedrohung Europas. Die Rede ist damit ganz zeitgeistig, aber ohne die Herausforderungen des Zeitgeistes zu thematisieren; dass Steinmeier den Feind „rechts“ verortet, und nur wenige Stunden später ein neuerliches Attentat islamischerseits in London stattfindet, zeigt die ganze Absurdität dieser Ideologie.

Die ausgesparten Passagen – so der Leser noch Nerven hat – finden Sie hier in der Gesamtrede.

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