Der Fall September

21. März 2017
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Freiheit | Machiavelli | Medien

Am Morgen erwachte ich aus unruhigen Träumen. Glücklicherweise fand ich mich nicht in ein gewaltiges Ungeziefer verwandelt, jedoch war der schaurige Gedanke zuvor ebenso ungeheuerlich.

Die Medien trommeln und die SPD aktiviert sämtliche Seilschaften und Verbindungen, die sie in den letzten 150 Jahren knüpfen konnte. Der Unmut über Merkel ist so groß, dass die SPD anscheinend wieder die 30% Marke im Visier hat. Einige Demoskopen rechnen sogar vor, die SPD habe die Union überholt. Nun ist der Löwe bekanntermaßen sehr vorsichtig mit der Schulz-Euphorie. Dennoch will ich wagen, an dieser Stelle ein Szenario zu spinnen, nämlich eines, das in jeder Hinsicht das Horrorszenario im September darstellen könnte.

Aufgeheizt von den Medien könnten beide Großparteien ca. 33% der Stimmen sammeln. Der plötzliche „Schulz-Zug“ reaktiviert die Unionswähler, die sich denken: gut, dieses eine Mal noch – gegen Schulz! Ähnlich wie ein Alkoholiker, der seit Jahren von der Droge lassen will, schleppen sich beiderseits die Stamm- und Noch-Stammwähler zur Wahlkabine. Selbst einige Nicht-Wähler geben ihre Stimme für Schulz ab, nicht so sehr, weil sie die SPD oder Schulz mögen, sondern weil sie nach 12 Jahren endlich die „ewige Kanzlerin“ loswerden wollen. Zudem saugt die SPD einst verprellte Wähler von der Linkspartei und den Grünen wie ein Schwamm auf. Denn eins ist klar: da Rot-Grün eine Chimäre bleibt, geht es bei der Kanzlerwahl lediglich darum, ob SPD oder Union mehr Stimmen haben.

Heißt: wider Erwarten kommen beide großen Parteien in das anvisierte Spektrum von 30-35%. Und das ist bereits der „worst case“. Es ist dabei völlig gleichgültig, ob Martin Schulz oder Angela Merkel anschließend gewählt wird: das alte Machtkartell hat damit bereits gewonnen, denn die Große Koalition wäre wieder fest im Sattel – und könnte die Zweidrittelmehrheit behalten. Spätestens hier dürfte dem wachen Leser auffallen, dass sowohl Christdemokraten, als auch Sozialdemokraten die Stärkung des Gegners als kleineres Übel ansehen. Grundgesetzänderungen sind damit weiterhin möglich. Wer aber über zwei Drittel des Bundestages in der Hand hat, dessen Exekutive kann sich weiterhin im luftleeren Raum bewegen. Eine Opposition, die nicht einmal ein Drittel der Stühle besetzt, kann keinen Widerstand leisten; die Grünen sind zudem de facto Steigbügelhalter der Regierungsparteien.

Leser Jan Werner meinte sarkastisch, was ich schon daran fände, jetzt seien doch auch 80% der Abgeordneten für die Regierungspolitik; nun, 2013 war aber nicht 2017, und dazumal hätte sicherlich keiner mit dem Gedanken gespielt, Nicht-EU-Ausländern dieselben Sozialhilfen wie Inländer mit Staatsbürgerschaft oder gar das Wahlrecht zuzuschustern. Tabus sind seitdem bis weit ins bürgerliche Lager hinein gefallen. Entscheidungen blieben mit Blick auf das Wahljahr aus.
Noch Anfang des Jahres schien das alles bei einer 20%-SPD und einer 35%-Union keine Gefahr mehr.

Das vornehmliche Ziel der Bundestagwahlen sollte darin bestehen, dass die neue Regierung eine starke Opposition, und eben nicht mehr die Macht über mögliche Grundgesetzänderungen hat. Mehrheiten sind so sicher geworden, dass die Exekutive den Bundestag übergehen kann. Das ist deswegen ein Skandal, weil die Regierung letztlich nur einen Teil des Souveräns repräsentiert, aber eben nicht alle gewählten Vertreter. Es ist eine Heuchelei ohnegleichen, dass immer wieder von den Vorzügen der repräsentativen Demokratie gefaselt wird, de facto aber weder der repräsentative, noch der demokratische Aspekt beachtet werden, wenn eine Bundeskanzlerin eigenmächtige Entscheidungen wie bei der Grenzöffnung trifft, für die es bis heute keinen Bundestagsbeschluss gibt (von rechtlichen Problemen ganz zu schweigen).

Aber selbst diese klein angesetzten Hoffnungen zerschlagen sich, weil einige jetzt in ihrer Anti-Merkel-Stimmung bereitwillig einem Buchhändler aus Würselen die Stimme geben, der so gar nichts anders machen will. Gerade angesichts so wichtiger Thema wie Einwanderungsrecht und Europäischer Integration deutet sich das Menetekel an, dass ein Bundestag mit Zweidrittelmehrheit sowohl migrations- wie europatechnisch noch zum Verhängnis wird. Jede Stimme für Union, SPD und Grüne ist daher eine, die das Land weiter auf dem bisherigen Kurs trägt. Auch ein ausgetauschter Kapitän wird daran wenig ändern. Im Gegenteil: die Kanzlerin ist merklich angeschlagen, national wie international. „Martin“ hätte Wind, einige Projekte voranzutreiben, bei denen Merkel die Kraft fehlt. Die Abgabe von Souveränität an Brüssel, Schritte hin zur Transferunion und weitere Aufnahme von Flüchtlingen – Schulz ist gegen eine Obergrenze – könnte sogar noch schneller vonstattengehen als mit der zur „lame duck“ verkommenen Ziehtochter Helmut Kohls.

Politik und Medien werden daher versuchen, die Auseinandersetzung weiter zuzuspitzen, sodass beide Lager wieder vermehrt Zulauf erhalten. Das tut Union wie SPD gut. Und es wäre das Schlimmste, was der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geschehen kann. Die Väter des Grundgesetzes verfassten dieses unter dem Eindruck Weimars. Dass einmal zwei große Parteien zu einer gemeinsamen Koalition ohne Not verschmelzen und dauerhaft die Zweidrittelmehrheit besetzen würden, hatten diese nicht vorhersehen können. Die 5%-Hürde, die Schwierigkeiten beim Misstrauensvotum und andere Klauseln, welche eher auf Stabilität, denn auf Freiheit abzielten, kommen das heutige Deutschland teuer zu stehen. Unter diesen Umständen ist es zu wünschen, dass so viele Parteien wie möglich ins Parlament einziehen, einzig, damit sie die Macht der Regierenden wenigstens durch das Wegnehmen von Bundestagssitzen beschneiden können.

Alle reden von Weimarer Verhältnissen. Nur im Parlament, da sitzt eine Einheitsfront. Ganz im Gegenteil sollte daher die Losung lauten: mehr Weimar wagen!

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