Meine Heimatgemeinde ist ein kleiner Ort im Bonner Vorland. Dort, wo sich die Kölner Bucht noch in einer flachen Ebene erstreckt, in der Ferne jedoch sich bereits die Eifel im Sommer dem blauen Himmel, im Winter mit schneebedeckten Anhöhen der grauen Wintersonne entgegenreckt, liegt dieses Dorf an einer nicht ganz unbedeutenden Stelle. Seit der Antike führte durch dieses Gebiet eine Römerstraße, der historische Flussübergang, der im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit genutzt wurde, ist Zeuge davon; wenn auch nur noch ein Meilenstein aus kurfürstlichen Tagen daran erinnert, welcher unter preußischer Herrschaft erneuert wurde.
Bleiben wir bei unserem Kurfürsten, zu Köln genannt, der aber bereits seit dem späten Mittelalter in Brühl und Bonn residierte. Die Beethovenstadt liegt etwas mehr als zehn Meilen entfernt, und aufgrund gewisser Liebschaften mit der Äbtissin im Nachbarort hatte sich der Staatsminister (und damals eigentliche Regent Kurkölns) in eben meinem Dorf ein Lustschloss – ja, werte Leser, hier stimmt Ihr anzüglicher Gedanke! – mitsamt Irrgarten anstelle einer alten, abgebrannten Wasserburg erbauen lassen. Es sei dabei im Übrigen erwähnt, dass unser kölnischer Staatsminister, den wir aus diesen Ehrengründen nicht mit Namen erwähnen, als Hochmeister des Deutschordens zum Zölibat verpflichtet war, und die Affäre über 20 Jahre anhielt; und in den Tagen, in denen die Geliebte sich ihren Pflichten widmen musste, vertrieb sich einer der mächtigsten Männer des Reiches die Zeit im nahen Wald mit der Jagd. Bis heute prägen Jagdszenen den Salon des kleinen Schlosses zwischen Wasser, Wald und Feld, dessen barocke Erscheinung und rokokogemäße Ausstattung die Erinnerung an die alte Burg aus dem Mittelalter vergessen machte.
Ebenfalls aus dem Mittelalter stammt allerdings auch die Kapelle der Gemeinde, die aus dem 12. Jahrhundert datiert. Wie Burg und Schloss mit einer wechselhaften Geschichte. Ein Marienzyklus, den man erst nach dem Krieg wiederentdeckte nimmt als Fresko den Raum über dem Altar ein. Wieder war das Walten des Kurfürsten schicksalhaft für jene Gemeinde, die selbst heute nur eintausend Seelen zählt: noch vor dem Dreißigjährigen Krieg brach der Truchsessische Krieg im Rheinland aus. Der Kurfürst von Köln, der eben auch Truchsess des Reichs und einer der drei großen Erzbischöfe des alten Deutschland war, hatte das lutherische Bekenntnis angenommen und wollte sein geistliches Reich in ein weltliches wandeln. Darüber hinaus wollte er seine Geliebte heiraten – nicht, dass uns weibliche Verfänglichkeiten der Vertreter Kurkölns hier sonderlich überraschen würden. Da mit einem weiteren protestantischen Kurfürsten die Machtbalance zwischen den reformierten Konfessionen und den katholischen gekippt wäre, brach eben jener Truchsessische Krieg aus, der das kurzzeitig lutherische Kurfürstentum verwüstete. Es geschah in dieser Zeit, dass die alte Kapelle umgeweiht wurde, man den Marienzyklus unter weißer Farbe verbarg, und man das Gotteshaus jeglicher Ästhetik zugunsten nüchterner Schlichtheit entkleidete. Unser kleines Dorf hatte das Unglück, direkt an der Grenze zum Herzogtum Jülich zu liegen, nur durch einen Fluss von diesem getrennt; ein zweites Unglück war, dass der dortige Herzog zugleich über Kleve, Berg und die Mark herrschte, und selbst Anspruch auf Köln erhob; ein drittes, das man den Konflikt für sich auszunutzen drohte, und der Ort sofort Opfer dieser Aktion wurde.
Köln blieb katholisch, und schloss sich nun mit jesuitischer Hilfe der Gegenreformation an. Im Dreißigjährigen Krieg verhärteten die Fronten, und die ehemalige Marienkapelle, die wieder katholisch geworden war, wurde demonstrativ Georg, dem Drachentöter gewidmet. Der Streit um das richtige Bekenntnis manifestierte sich damit im Streiter für den wahren Glauben; der Protestantismus war der Drache, der erlegt werden musste. Hohe Symbolik und Weltgeschichte für einen kleinen Ort am Rande des Kölner Territoriums, der damals über drei Mühlen, ein paar Wohnhäuser und die Ruinen jener Wasserburg verfügte, die man im Truchsessischen Krieg abgebrannt hatte, und wo heute erwähntes Schloss steht. Die Kapelle wurde mit Stuck und Blattgold üppig ausgestattet, neue Glocken gegossen, die silberne Monstranz mit ihrem goldenen Patron auf der Spitze stammt aus dieser Zeit und ist bis heute in Verwendung.
Neben der Grenzsituation, der Verteidigung des wahren Glaubens und etwaigen Liebschaften mit Äbtissinnen mögen Sie sich jetzt zu Recht fragen, wie so eine kleine Gemeinde diese Bedeutung besitzen konnte; nun, die Erklärung findet sich bereits im ersten Absatz. Die erwähnte Straße war und ist keine gewöhnliche Straße. Sie wurde nach der Römerstraße als Königsweg der heilig-römischen Kaiser weitergeführt. Es handelt sich um eine Abzweigung jenes Königsweges, den die Herrscher bei ihrer Wahl und Krönung nahmen. Diese wichtige Verkehrsader verbindet Aachen (Krönungsort) und Bonn, Bonn wiederum ist über den Rhein und Main mit Frankfurt (Wahlort) verbunden. Über diese Straße, an der unser Ort liegt, marschierten römische Legionen, ritten Könige und Kaiser, spazierte der Kurfürst, paradierten napoleonische und preußische Soldaten. Und Sie merken: womöglich wissen die meisten Leute überhaupt nichts davon, womöglich nicht einmal die Dorfbewohner oder überhaupt die Menschen in der Nähe; und für sie scheint es fern, wie sich in diesem Nest von wenigen Seelen immer wieder deutsche Geschichte im Kleinen gespiegelt hat.
Im zwanzigsten Jahrhundert kreuzt eine Autobahn die alte Straße am Ortsausgang; die Antwort unserer Tage, die Fortsetzung der Kontinuität. Fahren Sie von meiner Heimatgemeinde aus Richtung Bonn, so müssen Sie unter der Chaussee unserer Tage hindurch und können von dort nach Köln reisen (im Gegensatz zur kurfürstlichen Großzügigkeit wurde unserem Ort bis heute eine Auffahrt nach Koblenz verwehrt, das der Vollständigkeit halber). Jüngst, genauer: am letzten Sonntag fuhr ich unter eben jener Autobahn her, deren Trennwände derzeit renoviert werden, und durch ein provisorisches Stück ersetzt wurden.
Ich weiß nicht, wer die Parole dorthin gekritzelt hat. Der Kreis, zu welchem mein Dorf zählt, ist tiefschwarz bis ins Mark, die Union hatte dort früher Anteile, die an der Zweidrittelmehrheit kratzten. Das ist lange her; und noch vor den Tagen, da Norbert Röttgen antrat, zuerst sehr beliebt mit Ergebnissen im hohen Bereich der 50er Zahlen; nach dem Wechsel nach Berlin, und erst recht der NRW-Wahl, ist es damit aber genau so vorbei wie mit dem Rückhalt der Union in diesem Kerngebiet der CDU. Das Bonner Vorland kann als Teil des katholischen Rheinlandes mit Recht als eine jener Keimzellen der alten Union gelten: Konrad Adenauer ist nicht nur Kölner Oberbürgermeister gewesen. Während sich der Staatsminister mit der Äbtissin in unserem Lustschloss vergnügte, lebte in einem anderen Nachbarort ein gewisser Johannes Adenewer als Pachtbauer. Die Familie lebte über Jahrhunderte in unserer Gegend, bis sein Enkel Franz als Bäcker nach Bonn wechselte. Dessen Sohn Johann Conrad Adenauer war Offizier der preußischen Armee, später Beamter und Vater des ersten bundesdeutschen Kanzlers.
Nicht nur die CDU kommt aus der schwarzen, wasserreichen Erde unserer Lande, wo die Erdbeeren schmackhafter sind als anderswo; Adenauer, fleischgewordenes Symbol dieser Partei, ist Blut vom Blute dieser Menschen. Wieder also: unser kleines, unbedeutendes Provinznest auf Engste mit deutschem Schicksal verbunden. Womöglich interpretiere ich zu viel hinein, eine einfache Schmiererei als Menetekel zu deuten; aber wir sind hier im einst tiefkatholischen Rheinland, Keimzelle der Union, in der Provinz westdeutschen Milieus, wie man es sich nur klischeehaft denken kann, und nicht im als Wutbürgerreich verbrämten Sachsen. Wem auch immer die Schmierer angehörten, was auch immer sie im Sinne hatten – es beschreibt einen Zustand, der früher in diesem Teil des alten Deutschlands nicht denkbar war.
Ist es daher zu viel zu sagen, dass erneut ein kleines Ereignis in meinem Ort die Geschichte im Großen widerspiegelt?