Anlässlich des heutigen Tages zitiere ich aus dem Traktatsbeitrag ein paar Passagen zum „katholischen“ Tolkien:
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Dabei ist wichtig festzustellen: Tolkien verachtete Allegorien. Vielmehr spielen Prinzipien und Motive eine Rolle, die wir aus der europäischen Kulturgeschichte kennen. Frodo erlebt mit der Last des Rings eine Via Dolorosa, ist aber ebenso wenig als Christus zu verstehen wie Gandalf, der von den Toten zurückkehrt; ebenso hat Aragorn Anleihen eines messianischen Friedenskönigs, der die Welt wieder in Ordnung bringt, ohne dieser König im Wortsinn zu sein. Tolkien selbst gab in einem Brief an Robert Murray zu, dass die Elben-Königin Galadriel in ihrer erhabenen und reinen Art von der Gottesmutter Maria inspiriert sei – was nicht zuletzt an ihrem Beinamen Jungfrau, gekrönt mit schimmerndem Haar, deutlich wird:
I think I know exactly what you mean by the order of Grace; and of course by your references to Our Lady, upon which all my own small perception of beauty both in majesty and simplicity is founded.
Tolkien räumt der Seele hinter den Dingen Platz ein. Der Herr der Ringe ist eben nur eine Geschichte aus Mittelerde, die Facette eines brillierenden Kristalls.
Das Lied von Eis und Feuer dagegen ist der Kristall.
Böse Zungen könnten behaupten, dass das, was Tolkien bei der Charakterbeschreibung vermissen lässt, in lexikonähnlichen Artikeln und Bänden staute. Aber auch der Vorwurf eines charakterlichen, reinen Gut-Böse-Schemas stimmt nicht völlig. Natürlich existieren im Herrn der Ringe nur zwei Seiten: jene, die sich mit dem Bösen, also Sauron verbünden, und jene, die sich diesem übermächtigen Feind entgegenstellen.
Wie sich aber die handelnden Akteure aufstellen, ist ihnen überlassen. Gollum, jenes Geschöpf, das völlig dem Ring verfallen ist, sogar im Rausch der Verführung seiner eigenen Identität als Hobbit verlustig geht, ist dabei das beste Beispiel, dass Tolkien die Frage nach der Gräue austarierte. Die Zerrissenheit von Gollum zwischen einer möglichen Freundschaft zu den beiden Hobbits Frodo und Sam, sowie dessen Sehnsucht nach dem Ring, den Frodo bei sich trägt, lässt für einige Szenen die Frage völlig offen, ob Gollum „gut“ oder „böse“ ist; seine Wahl, die Hobbits zu verraten, lässt ihn ins Lager der Bösen wechseln und nicht etwa, weil er per se darin zu verorten ist.
Ein anderer Fall betrifft das Brüderpaar Boromir und Faramir, die Söhne des Truchsesses von Gondor. Boromir, von seinem Vater geliebt, begleitet die Gefährten auf ihrer Reise, verfällt aber dem Ring und bringt das ganze Unternehmen in Gefahr. Auch hier ist es Schwäche, nicht Bosheit, die Boromir vom rechten Weg abkommen und zuletzt sogar an seinem Fehler sterben lässt. Faramir dagegen, der in den Augen des Vaters nur die zweite Rolle spielt, erweist sich als weitaus würdigerer Erbe seines Hauses, da er dem Ring entsagt – obwohl er die Möglichkeit hat, diesen ebenfalls an sich zu reißen.
Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: Tolkien war überzeugter Katholik. Und gerade diese moralische Sichtweise, die Freiheit der Menschen, sich zu einer Seite zu bekennen, darf genau als typischer katholischer Einfluss gelten wie etwa der Gedanke, dass Mythen keine Lügen sind, sondern Wege, um die Wahrheit zu verdeutlichen – im Übrigen ein Streitpunkt zwischen ihm und dem Schriftstellerkollegen C. S. Lewis. Im Gegensatz zu Martins Westeros, wo der Zweck die Mittel heiligt, wenn es um die Macht geht, ist in Mittelerde die Frage um Macht und Moral ein äußerst sensibles Thema.
The Lord of the Rings is of course a fundamentally religious and Catholic work; unconsciously so at first, but consciously in the revision.
… schreibt Tolkien in seinem Brief an Murray direkt nach der oben erwähnten Marienpassage. Das erscheint für viele, die vielleicht das Fantasy-Genre, den Herrn der Ringe oder den Hobbit kennen, aber nicht die Person Tolkiens, auf den ersten Blick verblüffend; ein Kritikpunkt an der Fantasy war ja seit ihrer Schaffung das Dämonische und Okkulte, was auch von christlichen Glaubensvertretern oder – wie jüngst – Lehrbeauftragten immer wieder unterstrichen wurde. Wer aber den Herrn der Ringe genauer liest, merkt, dass ihm eine zutiefst christlich-katholische Moral innewohnt.
Die schärfste Trennlinie zwischen Westeros und Mittelerde erfolgt in der dahinter stehenden Weltanschauung. Westeros ist auf den eigenen Vorteil bedacht: ob bezüglich der eigenen Macht oder der sexuellen Vergnügungen. Das hat oft zu Aussagen verleitet, Martins Fantasy-Entwurf sei „authentischer“ oder „realistischer“; das ist er mitnichten. Er ist nur materialistischer. Deswegen ist verständlich, weshalb der Zeitgeist mit „Game of Thrones“ weitaus mehr anfangen kann. Die heute als egoistisch wahrgenommene Welt findet sich dort viel stärker wieder. Sie ist – im theologisch-philosophischen Sinne – in der Tat „die Welt“, also zutiefst weltlich, ohne Hoffnung darauf, dass Ideale sich tatsächlich erfüllen können oder Tugenden zwangsläufig belohnt werden.
Wo es kein immanentes Böses, keinen Teufel wie Sauron gibt, existiert auch kein Gott; außer der menschengemachte von Macht und (nicht nur sexuellem) Konsum.
Mittelerde indes ist ein zutiefst spiritueller Ort. Auf den ersten Blick erscheint dies absurd, denn der Katholik Tolkien geht niemals auf eine Religion, Riten oder Opfer in seiner eigenen Welt ein, die im Grunde stark von der nordischen Saga inspiriert ist. Die Abwesenheit der organisierten Religion spielt jedoch keine Rolle, wenn man sich vor Augen führt, dass Spiritualität in Tolkiens Werk durch die Schöpfung und ihre Charaktere lebt.
Gandalf ist im besten Sinne ein (Schutz)Engel, ein überirdischer Begleiter mit einer Mission. Immer wieder unterstreicht er, dass auch kleinste Taten eine Wirkung auf das Geschehen haben; dass es nicht darauf ankommt, die ganze Welt aus den Angeln zu heben, dass es nicht die Großen und Mächtigen sind, sondern die oftmals als gering erachteten Menschen, welche die Welt in den Fugen halten. Man mag an das Kind im Stall denken, dass Gott eben so groß ist, dass er sich ganz klein machen kann. Und dass die kleinwüchsigen Hobbits, die so lächerlich und mickrig im Gegensatz zu den scheußlichen Orks oder den schönen Elben gelten, mit ihrer Mission, nämlich der Zerstörung des Rings und seiner Macht, eben diesen Menschenschlag repräsentieren. Sie sind im besten Sinne Märtyrer: Personen, die für ihre Überzeugungen einstehen und bereit sind, mit ihrem Leben zu bezahlen.
Wo wir schon bei Orks und Elben waren: hier zeigt sich ein weiterer Baustein von Tolkiens Philosophie. Das Böse als solches ist zwar immanent, aber es existiert nicht aus sich selbst heraus. Die Orks sind eine Korrumpierung der Elben; Gollum ist ein korrumpierter Hobbit; selbst der Erzbösewicht Sauron war ein Maiar, jene überirdische Kategorie, der auch Gandalf angehört – und damit ein gefallener Engel. Die Schöpfung Tolkiens ist im Grunde gut. Wer sich aber gegen den Plan des Schöpfers entscheidet, tut dies aus eigenem Willen und bekennt sich damit zum Bösen. In dieser Hinsicht ist der Herr der Ringe auch kein dualistischer Kampf, da die Bösen physisch wie psychisch nur verirrte Formen sind.
Dass die korrumpierten Lebewesen im Übrigen das von den Elben gebackene Brot Lembas – das in der Elbensprache Quenya übersetzt „Brot des Lebens“ heißt – verabscheuen, lässt übrigens noch an ein ganz anderes Brot denken, welches die Dämonen der Welt nicht antasten mögen.
Ich betone es nochmals, um Irrtümer zu vermeiden: Sauron ist nicht der Teufel, das Elbenbrot ist nicht die Kommunion. Aber die Punkte zeigen die spirituelle Dimension des Buches auf, die erst bei einem zweiten Durchblick offenbar wird – und die Martin komplett fehlt. So schlimm auch die Herausforderungen für die Protagonisten sein mögen, innerlich vibriert die christliche Hoffnung auf Erlösung – ohne, dass diese vollständig ist.
Wer denkt, dass Tolkiens Buch damit endet, dass das Gute gegen das Böse vollständig triumphiert, irrt. Mittelerde ist bereits ein untergehender Kontinent. Die Elben wandern aus, die großen Zeiten der Zwerge sind vorüber, die meisten Menschenstädte sind Ruinen. Die wenigen Zeichen der Zivilisation sind Reste dessen, was einst war. Der Herr der Ringe ist kein Disney-Märchen. Das Gute wird immer wieder vom Bösen herausgefordert; und Tolkien, ganz Historiker, wusste, dass es auf Erden kein Ende der Geschichte geben würde, dass Erlösung immer transzendent ist. Das Paradies, in das Gandalf und Frodo am Ende einkehren, indem sie „nach Westen fahren“, liegt außerhalb Mittelerdes – unerreichbar für die meisten Wesen.
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