Diese kleine Geschichte stammt ursprünglich aus den Euganeischen Anekdoten. Sie entstand etwa im Spätsommer 2015; aber vielleicht weil ich sie stets als aktuell und spitz empfand, habe ich sie nicht als Exempel veröffentlicht, da ich weiß, dass sie für diejenigen mit einem wachen Auge eine Provokation bedeutet. Mehrmals hat es mich seitdem gejuckt, sie hier doch einmal zu zitieren – der Anlässe gab es mindestens zwei. Da das Symptom, das die westliche Gesellschaft im Zaume hält, aber immer verstörendere Züge annimmt, komme ich nicht umhin, sie hier öffentlich zu machen.
Die Anekdote stammt aus der VIII. Stunde des Dekahoron („Scheitern“).
Ein kleines Fürstentum in Russland lebte in Frieden, bis ein benachbarter Nomadenstamm dieses überfiel. Die Landbewohner flüchteten vor dem Feuer und brachten ihre Kinder in Sicherheit. Als sie auf die verwüsteten Äcker zurückkehrten, und sahen, dass ihre Ernte auszufallen drohte, brachen sie in Trauer aus. Die Mächtigen des Landes sahen das, und ließen verlauten:
»Das ist ein ganz schreckliches Unglück! Unsere Gedanken sind bei euch! Das ganze Fürstentum ruft dazu auf, zu trauern – und wer nicht trauert ist ein Unmensch!«
So geschah es, dass alle Untertanen die Woche mit Trauer zubrachten. Man hielt Gottesdienste und Reden für die armen Menschen; als das Ereignis aber in den Köpfen verblasste, erinnerte man nicht weiter daran, denn es gab wichtigere Probleme.
Nach Monaten kamen die Feinde zurück. Da es sich um wilde Steppenreiter handelte, raubten sie dieses Mal die jungen Frauen und Kinder um sie zu versklaven und zu verkaufen. Nachdem der letzte Huf über den Boden galoppierte, und sich die Staubwolke senkte, wagten es die Landleute des kleinen Fürstentums, wieder aus den Verstecken zu kommen. Die Mächtigen, die sich hinter den Palisaden ihrer Festung verschanzt hatten, kamen aus ihrer sicheren Bastion hervor und sprachen:
»Das ist ein ganz schreckliches Unglück! Unsere Gedanken sind bei euch! Das ganze Fürstentum ruft dazu auf, zu trauern – und wer nicht trauert ist ein Unmensch!«
Wieder beging man Reden, und wieder brachte man eine Woche mit Trauer zu. Aber der Pope, der zum wiederholten Male den Gottesdienst hielt, konnte nach der Messfeier nicht ruhen, denn es war bereits das zweite Mal ein Unglück geschehen, das kein Unglück war; denn der weise Mann wusste das Unabdingbare von dem Veränderbaren zu unterscheiden. Bald suchte er den Fürsten und die anderen Adligen auf der Burg auf, und stellte sie zur Rede:
»Du lässt die Menschen so lange trauern, dass sie ganz vergessen, wieso sie es tun.«
»Du weißt selbst, dass ein furchtbares Unglück passiert ist«, behauptete der Fürst. »Was hätte ich denn tun sollen?«
»Nachdem die Tartaren uns zuerst überfielen, hättest du eine Mauer bauen können. Du hättest Soldaten rekrutieren müssen. Oder du hättest Tribut zahlen können, um dir die Steppenreiter vom Hals zu halten«, warf ihm der Pope vor. »Du willst nur von deiner Untätigkeit ablenken, weil du behauptest, es sei alles ein Unglück. Was, wenn Schlimmeres passiert?«
Der Fürst knirschte mit den Zähnen, weil der Priester ihn durchschaut hatte. Ärgerlich hob er die Hand:
»Raus, aus meinen Augen. Das nächste Mal lasse ich dich nicht so davonkommen!«
Der Pope verstand, und entfernte sich vom Hof. Auch die anderen Mächtigen hatten ihm böse Blicke zugeworfen. Bei Überfällen hatten sie nichts zu befürchten, denn sie besaßen Mauern und Schwerter, die das einfache Volk nicht besaß – denn die Mächtigen fürchteten, dass, gäbe man dem Volk Waffen, dieses die Macht ergreifen könnte. Und eine Mauer oder Söldner hätten dem Fürsten viele Ausgaben zugemutet, die er für seine eigenen Zwecke aufwendete.
Es geschah das, was der Pope befürchtete: wieder verging ein Monat, und neuerlich kamen die Nomadenreiter. Dieses Mal lebten sie ihren Gewaltrausch völlig aus, raubten und plünderten, steckten Häuser in Brand und schlugen eine Bauernfamilie tot. Die verängstigten Untertanen krochen aus den Trümmern hervor, und weinten über das Geschehene. Erst, nachdem die Mächtigen von den Türmen ihrer Befestigung die Tartaren verschwinden sahen, stiegen sie von den Palisaden herab und begaben sich zum Volk.
Wieder zeigte sich der Fürst untröstlich:
»Das ist ein ganz schreckliches Unglück! Unsere Gedanken sind bei euch! Das ganze Fürstentum ruft dazu auf, zu trauern – und wer nicht trauert ist ein Unmensch!«
Da schritt der Pope dazwischen, und mischte sich in die Menge. Wütend klagte er den Fürsten an:
»Du Versager! Du Heuchler! Zweimal hat man dich ermahnt, aber weil es dich nicht betrifft, sprichst du so schön darüber! Das Unglück kam nicht aus heiterem Himmel, ich habe dich gewarnt. Siehst du nicht ein, dass du endlich etwas tun musst?«
Der Fürst merkte, wie unruhig das Volk wurde, und entgegnete schroff:
»Seht, was für ein Unmensch! Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Er will sich nur besser darstellen, dieser Besserwisser! Statt zu trauern, und mit euch die Toten zu beweinen, redet er von Politik. Eure Toten will er jetzt gegen mich aufbringen!«
Da wurde die Stimmung laut, dass der Pope diesen Vorfall für sich instrumentalisieren wolle, und man schlug ihn in Fesseln. Man trat ihn in den Staub und dem Fürsten vor die Füße. Der schaute hinunter zum Gottesmann, dessen weißer Bart im Dreck ganz braun geworden war, und fügte gehässig hinzu:
»Trauern darfst du wohl – Fragen stellen nicht.«