„Reformation förderte Demokratieentwicklung“

31. Oktober 2016
Kategorie: Europa | Freiheit | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Ironie | Linkverweis | Medien | Zum Tage

„Die Reformation gehört zur Vorgeschichte für die demokratische Entwicklung unserer Zivilgesellschaft in Deutschland und für das demokratische Europa.“

So titelte zumindest das Kolpingwerk Deutschlands auf seiner Seite. Zur Erinnerung: das Kolpingwerk ist eine katholische Organisation, keine evangelische. Es handelt sich also um keinen Dienst in eigener Sache. Außer, man wertet den Rückzug der Religion in der Germania Magna mittlerweile als Grund, so eng zusammenzurücken, dass man sich zu einer derartigen These versteigt; glücklicherweise sind es derer dieses Mal nicht wieder fünfundneunzig. Die Motivation wird in dieser Passage deutlich:

„Diejenigen, die fordern, der demokratische Staat müsse sich vollständig von Religion und Kirchen befreien, verkennen die positive Kraft, die in diesem Erbe liegt. Denn unser Rechtsstaat lebt in seinen Normen und Werten auch durch religiöse Wertvorstellungen. Er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht geben und garantieren kann.“

Der Katholizismus versucht sich also hier auf den Zug des Anti-Laizismus zu retten, indem er sich als Schlafwagen an den Protestantismus anhängt. Weil die Reformation ein Teil der christlichen Religion sei, und die den Staat auf demokratisch-freiheitliche Art befruchtet habe, sei die Reformation als Erscheinung zu befürworten. Wäre ich evangelisch, so würde ich zynisch konstatieren: die Katholen versuchen sich auch ein Stück vom Reformationskuchen abzuschneiden, um nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Als Katholik frage ich mich wiederum, ob solcherlei Anbiederung nötig ist, handelt es sich schließlich beim Reformationstag doch letztendlich um den denkbar anti-katholischsten Feiertag der Glaubensbrüder; Katholiken, die Reformationstage feiern, sind in etwa so wie Protestanten, die an Mariä Himmelfahrt aus Solidarität bei der Prozession mitmachen. Ein jeder frage sich, ob das Sinn der Konfession ist.

Sei’s drum. Hier soll es weniger um Theologie, als Geschichte gehen. Denn auch die religiösen Fallbeispiele ändern nichts daran, dass die Deutung

„Es brauchte Zeit, bis der Schatz der Freiheit, der tief im christlichen Menschenbild wurzelt, in der Folge der Reformation gehoben werden konnte. Der Gedanke der Freiheit eines Christenmenschen steht zugleich für die Freiheit Andersdenkender und Andersglaubender und ebenso für die Freiheit der Religionsausübung.“

eher auf tönernen Füßen steht und mit Sicherheit keine feste Burg des Herrn ist. Sie erweckt nämlich den Eindruck, als sei die Reformation der Durchbruch des christlichen Freiheitsgedankens gewesen, so, als hätte dieser im Christentum geschlummert und sei erst später gehoben worden.

Die Aussage ist in vielfacher Hinsicht falsch; in erster Linie, weil es keinen Luther brauchte, um die „Freiheit“ zu entdecken. Bereits vor 1517 prangte auf den meisten Fahnen und Wappen der freien Städte Europas – besonders in Italien und Deutschland – der Schriftzug „libertas“, im Sinne einer Freiheit und Unabhängigkeit von höheren Herren und eines zumeist selbstständigen Patriziats. In einigen Städten handelte es sich dabei nur um die reiche Oberschicht, woanders gehörten auch Kaufleute und die einflussreichen Handwerkermeister dazu; in der Schweizer Eidgenossenschaft stimmten bereits im 16. Jahrhundert die Gemeinden selbst über ihr politisches Schicksal ab; ein Grund übrigens für die schachbrettartige Verteilung der Konfessionen in der Alten Eidgenossenschaft, da die Kantone selbst wählten, welchem Glauben man sich unterwarf; im kommunalistischen Graubünden sogar bis auf Gemeindeebene. Die Reformation prägte daher weniger die „Freiheit“; die christliche Freiheit war mit ein Grund, warum sich die Reformation überhaupt so fruchtbar verbreiten konnte – besonders im deutschen Sprachraum mit seinen vielzähligen Territorien, wo Fürsten und Städte eifersüchtig ihre „Freiheiten“ verteidigten!

„Demokratie“ und „Freiheit“ waren also auch dem vor-lutherischen, christlichen Europa keine fremden Gedanken; nicht nur in politischer, sondern auch in philosophischer Hinsicht. Nicht die Reformation, sondern die davor eingeläutete Renaissance begründet den Wert des Individuums. Man spricht nicht umsonst von „Renaissance-Humanismus“, statt „Reformation-Humanismus“. Der Wert des diesseitigen Lebens wird in der Lebensfreude der Renaissance offenbar. Vielzitiert die Anekdote des Dichters Petrarca, der einen Berg des Berges willen bestieg, nicht, weil er es musste; und auf dem Gipfel des Mont Ventoux die Schönheit der Schöpfung beschaute, statt das oft zitierte Jammertal des Mittelalters. „Progressiv“ sein bedeutete um 1500: ein Renaissancemensch sein, der das Leben und den Menschen bejahte. Insofern wirkt die Aussage

„Die Zeit der Reformation hat Strukturen aufgebrochen, deren Früchte zu hüten und deren Konsequenzen zu sichern, ein stetiger Auftrag bleiben.“

befremdlich, wenn man sich fragt, welche Strukturen damit gemeint sind – nämlich nicht nur die katholischen Institutionen, die durch die verschiedenen protestantischen Strömungen ausgehebelt, aufgehoben und zerstört wurden, angefangen bei Klöstern und Orden bis hin zur Abschaffung ganzer Bistümer und der Säkularisierung von Kirchengütern (die ganz unfromm in die privaten Taschen von Städten und Fürsten wanderten), sondern auch die „Aufbrechung“ des damaligen Renaissance-Zeitgeistes zugunsten einer „konservativen Revolution“.

Luthers Verdienst war weniger eine „Befreiung“, als vielmehr ein „Rollback“ der damals vorherrschenden Weltanschauungen. In Rom herrschten die Familien Borgia oder Medici in Prunk und Luxus, weil es völlig dem progressiven Zeitgeist entsprach, welcher Renaissancekunst und Wissenschaft hochpries. Ja, Wissenschaft – denn entgegen dem Klischee waren die Renaissancepäpste Sponsoren von Mathematikern, begründeten Bibliotheken und interessierten sich für Flora und Fauna. Die Renaissance war auch deswegen eine Zeit des Universalgenies, weil die Renaissance den menschlichen Geist schätzte. Die Vernunft verhalf zum Durchbruch in den schönen Künsten und der Naturwissenschaft.

Es war aber gerade die Reformation, die diesen Höhenflug eher beendete, statt ihn zu bereichern. Luther war kein Freigeist. Indes seit Thomas von Aquin die Vernunft als Kernbestand katholischer Lehre bis hin zu Papst Benedikt XVI. den Glauben bereichert, war es Luther, der äußerte

„Die Vernunft ist die höchste Hur, die der Teufel hat.“

und

„Wer … ein Christ sein will, der … steche seiner Vernunft die Augen aus.“

Die Vernunftablehnung Luthers steht damit in starkem Kontrast zur Lehre seines Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam. Der setzte mit seinem „Lob der Torheit“ ein Kontrastprogram: satirisch äußert hier die Torheit in Person:

„Es tut halt so sauwohl, keinen Verstand zu haben, dass die Sterblichen um Erlösung von allen möglichen Nöten lieber bitten, als um Befreiung von der Torheit.“

Erasmus riet Luther im Zuge der Reformation per Brief daher:

„Soviel wie möglich halte ich mich neutral, um desto mehr dem Wiederaufblühen der Wissenschaft nützlich zu sein. Meines Erachtens kommt man mit bescheidenem Anstand weiter als mit Sturm und Drang.“

So war es dann auch Erasmus, der in der Reformationszeit der verhandelnde, der gemäßigtere, vernünftigere Gelehrte war, mit dem sich die Katholische Kirche weitaus mehr hätte fraternisieren können – nicht zuletzt, da er Reformationsbedarf sah, aber weder Papsttum noch die Katholische Kirche in Frage stellte. Für Erasmus besaß der Mensch Freiheit (!) gute oder böse Taten zu begehen; Luther sah die Taten vorherbestimmt. Ebenso war es Erasmus, der ein Traktat über den freien Willen verfasste, indes Luther behauptete, der menschliche Wille sei ein Pferd, das vom Teufel geritten werde.

Wenn also Luther für „Demokratie und Freiheit“ ein Vorläufer sein soll, sollte man genauer fragen – welche Freiheit? Luthers Gedankenwelt ist keine „liberale“ sie wird von autoritärem Gedankengut bestimmt. Da ist „unserer Welt“ ein Erasmus deutlich näher, nicht nur im katholischen Sinne, sondern auch im Sinne der freiheitlichen Gesinnung. Dass eine freiheitlich-demokratische Grundordnung (wie sie das Kolpingwerk intendiert) auch nur mit freiheitlich denkenden Individuen möglich ist, und damit kaum mit der theoretischen Grundlage Luthers und der Reformation, dürfte auf der Hand liegen.

Womit wir bei der Freiheit Andersdenkender und Andersglaubender sind.

„Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig!“

Das ist noch einer der schmeichelhaftesten Ausfälle Luthers. In der Theorie mag die Freiheit eines Christenmenschen schön und gut sein, jedoch ist es nicht das einzige Werk Luthers – und der Verfasser selbst zeigte eine deutliche Ablehnung gegenüber abweichenden Meinungen. Mit der Reformation begann ein Zeitalter der Intoleranz, in welchem beide Konfessionen beinhart ihre Territorien und ideologischen Positionen abzustecken versuchen. Trotz Einladung zum Trienter Konzil erschienen die geladenen Protestanten gar nicht erst. Luther und seine Anhänger waren der Überzeugung, den wahren Weg zu gehen – ausgewogene Gesprächspartner wie Erasmus galten eher als Unbelehrbare, vom Antichristen in der Kurie ganz abgesehen. Das Sacco di Roma, die Plünderung Roms (1527), nahm Luther mit Genugtuung entgegen, da Gott seine Feinde zerstöre; das Massaker an der Zivilbevölkerung kümmerte ihn im eigenen Eifer nicht. Die Erneuerung der römisch-katholischen Kirche im Zuge des Konzils von Trient führte wiederum dazu, dass auch Rom die Zügel nun wieder enger anzog, was zwar die Missstände abschaffte, jedoch einen engstirnigeren Kurs einleitete, der letztendlich zu einer ebenso starken Ideologisierung führte. Die Reformation hatte also einen konkreten, anti-freiheitlichen Einfluss auf Rom, war also auch hier insgesamt weniger vorteilhaft, als das Kolpingwerk versucht darzustellen.

Womit über die Andersglaubenden außerhalb der christlichen Religion noch gar nichts gesagt ist. Der Antijudaismus Luthers wurde schon genügend seziert; der Ehrenrettung halber sei erwähnt, dass es sich um ein zeittypisches Phänomen handelte (auch Erasmus hatte antijudaistische Tendenzen), aber dennoch schwerlich in das Bild von der „Freiheit Andersglaubender“ passt, wie in der Stellungnahme kolportiert. Was schwerer wiegt: faktisch hatten die Juden in einigen Teilen Europas (so Venedig und in Polen) eine bessere Stellung als theoretisch in den Schriften Luthers. Der Reformator forderte in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ nicht nur die Zerstörung ihrer Privathäuser und Synagogen, sondern wollte die Lehren der Rabbiner unter Androhung der Todesstrafe verbieten. Da war das real-existierende, katholische Polen mit ihren Königen, die unzähligen Juden aus allen Teilen der Welt Schutz zusicherten, deutlich weiter.

Es existiert daher eine ganze Reihe von Gründen, die Reformation überhaupt nicht zu einer Vorgeschichte von „Freiheit und Demokratie“ zu erklären, sondern zum absoluten Gegenteil: zum Ausgangspunkt von Repression, Ideologisierung, Rückfall in Autoritätsglauben und Ablehnung von Willens- und Meinungsfreiheit. Möglicherweise ist aber auch genau das der eigentliche Hintergrund, warum die Reformation heute wieder so en vogue ist.

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