Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche schreibt in der dritten Abhandlung (Was bedeuten asketische Ideale?) seiner „Genealogie der Moral“ im 19. Kapitel:
Die Mittel des asketischen Priesters, welche wir bisher kennenlernten – die Gesamt-Dämpfung des Lebensgefühls, die machinale Tätigkeit, die kleine Freude, vor allem die der »Nächstenliebe«, die Herden-Organisation, die Erweckung des Gemeinde-Machtgefühls, demzufolge der Verdruß des einzelnen an sich durch seine Lust am Gedeihen der Gemeinde übertäubt wird – das sind, nach modernem Maße gemessen, seine unschuldigen Mittel im Kampfe mit der Unlust: wenden wir uns jetzt zu den interessanteren, den »schuldigen«. Bei ihnen allen handelt es sich um eins: um irgendeine Ausschweifung des Gefühls – diese gegen die dumpfe lähmende lange Schmerzhaftigkeit als wirksamstes Mittel der Betäubung benutzt; weshalb die priesterliche Erfindsamkeit im Ausdenken dieser einen Frage geradezu unerschöpflich gewesen ist: »wodurch erzielt man eine Ausschweifung des Gefühls?«…
Das klingt hart: es liegt auf der Hand, daß es lieblicher klänge und besser vielleicht zu Ohren ginge, wenn ich etwa sagte »der asketische Priester hat sich jederzeit die Begeisterung zunutze gemacht, die in allen starken Affekten liegt«. Aber wozu die verweichlichten Ohren unsrer modernen Zärtlinge noch streicheln? Wozu unsrerseits ihrer Tartüfferie der Worte auch nur einen Schritt breit nachgeben? Für uns Psychologen läge darin bereits eine Tartüfferie der Tat, abgesehen davon, daß es uns Ekel machen würde. Ein Psychologe nämlich hat heute darin, wenn irgendworin, seinen guten Geschmack (– andre mögen sagen: seine Rechtschaffenheit), daß er der schändlich vermoralisierten Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne Urteilen über Mensch und Ding angeschleimt ist. Denn man täusche sich hierüber nicht: was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Unschuld in der moralistischen Verlogenheit. Diese »Unschuld« überall wieder entdecken müssen – das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus, an all der an sich nicht unbedenklichen Arbeit, deren sich heute ein Psychologe zu unterziehn hat; es ist ein Stück unsrer großen Gefahr – es ist ein Weg, der vielleicht gerade uns zum großen Ekel führt…
Ich zweifle nicht daran, wozu allein moderne Bücher (gesetzt, daß sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und ebenfalls gesetzt, daß es einmal eine Nachwelt mit strengerem härterem gesünderem Geschmack gibt) – wozu alles Moderne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen könnte: zu Brechmitteln – und das vermöge seiner moralischen Versüßlichung und Falschheit, seines innerlichsten Femininismus, der sich gern »Idealismus« nennt und jedenfalls Idealismus glaubt. Unsre Gebildeten von heute, unsre »Guten« lügen nicht – das ist wahr; aber es gereicht ihnen nicht zur Ehre! Die eigentliche Lüge, die echte resolute »ehrliche« Lüge (über deren Wert man Plato hören möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen darf, daß sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, daß sie zwischen »wahr« und »falsch« bei sich selber zu unterscheiden wüßten. Ihnen geziemt allein die unehrliche Lüge; alles, was sich heute als »guter Mensch« fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgendeiner Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese »guten Menschen« – sie sind allesamt jetzt in Grund und Boden vermoralisiert und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zuschanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit »über den Menschen« aus!.. Oder, greiflicher gefragt: wer von ihnen ertrüge eine wahre Biographie!..
Ein paar Anzeichen: Lord Byron hat einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber Thomas Moore war »zu gut« dafür: er verbrannte die Papiere seines Freundes. Dasselbe soll Dr. Gwinner getan haben, der Testaments-Vollstrecker Schopenhauers: denn auch Schopenhauer hatte einiges über sich und vielleicht auch gegen sich (»eis heauton«) aufgezeichnet. Der tüchtige Amerikaner Thayer, der Biograph Beethovens, hat mit einem Male in seiner Arbeit haltgemacht: an irgendeinem Punkte dieses ehrwürdigen und naiven Lebens angelangt, hielt er dasselbe nicht mehr aus… Moral: welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich? – er müßte denn schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagners: wer zweifelt daran, daß es eine kluge Selbstbiographie sein wird?… Gedenken wir noch des komischen Entsetzens, welches der katholische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos geratenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat; was würde man erst beginnen, wenn uns jemand diese Bewegung einmal anders erzählte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther erzählte, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit der süßlichen und rücksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, sondern etwa mit einer Taineschen Unerschrockenheit, aus einer Stärke der Seele heraus und nicht aus einer klugen Indulgenz gegen die Stärke?…
(Die Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen Typus der letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht – sie dürfen ihn sich schon zurechnen, zugute rechnen: nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem klügsten aller klugen »Tatsächlichen«.)