Da der Löwe derzeit die Schwingen spreizt und nach Zürich fliegt, will ich bei diesem Traktat nur in schneller Form antworten. Eine weitergehende Analyse ist das Stück leider nicht wert. Stattdessen machen wir einen „Faktencheck“.
Zum Glück gibt’s den Islam
Der Islam wird von seinen Kritikern als barbarisch dargestellt, das Christentum als aufgeklärt. Beides ist falsch. Tatsächlich waren einst die Christen die wahren Barbaren.
Denn ehrlich: wer so beginnt… ach, lassen wir das. Wenden wir uns dem Text zu.
So beschreibt der britische Historiker Thomas Asbridge in seinem Mammutwerk „Die Kreuzzüge“, was die Invasoren aus Westeuropa nach der ersten Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 anrichteten. Das Schlachten dauerte mindestens zwei Tage, unterbrochen von einem christlichen Gottesdienst am ersten Abend. Ein zeitgenössischer Reisender berichtet, noch sechs Monate nach dem Massaker habe ganz Jerusalem nach Tod und Verwesung gestunken.
In der aktuellen Forschung gilt es als höchst umstritten, inwiefern das Massaker von Jerusalem wirklich so stattgefunden hat. Plünderungen und Niedermetzelungen dieser Art waren – leider – üblich, und das auf allen drei Kontinenten der alten Welt. Die Vermutung, dass die hemmungslose Übertreibung darauf zurückzuführen ist, dass die Chronisten ihren Erfolg besonders feiern wollten, liegt nahe. In einem Vortrag an der Universität Bonn äußerte man nicht zuletzt, dass die Dimension des Massakers vermutlich in „normaleren“ Bahnen ablief, als man es glaubt, und die Propaganda sowohl auf christlicher wie muslimischer Seite erwünscht war. Insofern sind die blumigen Schilderungen mit Vorsicht zu genießen.
Um das zu verstehen, muss man noch deutlich weiter zurückgehen als bis zu den Kreuzzügen. Das echte „finstere Mittelalter“ Europas lag etwa zwischen dem vierten und dem achten Jahrhundert nach Christus. Damals hatte das Christentum sich in weiten Teilen Europas verbreitet, und seine Verfechter und Verteidiger begannen mit etwas, das man heute eher mit den Taliban assoziieren würde als mit dem christlichen Abendland: der systematischen Vernichtung von Kulturgütern.
Christliche Herrscher und Kirchenführer sorgten beispielsweise dafür, dass in West- und Osteuropa massenweise Bücher verbrannt wurden, ganze Bibliotheken opferte man der höheren Ehre Gottes. Alles Wissen jenseits der Bibel und theologischer Abhandlungen galt als gefährlich, weil es den Glauben hätte in Frage stellen können. Viele Schriften griechischer Philosophen und Dramatiker, natur- und geisteswissenschaftliche Abhandlungen konnten nur überleben, weil Gelehrte in den Osten flohen, Wissen und Bücher mitnahmen. „Über diese verschlungenen Pfade sollten also Araber Aristoteles und all die Schätze der griechischen Wissenschaft erben“, schreibt Peter Watson in seiner grandiosen Welt-Kulturgeschichte „Ideen“.
Das ist mit Verlaub – in dieser schematischen Darstellung – Humbug. Es waren gerade die christlichen Institutionen, allen voran die Klöster mit ihren Kopisten, die das Restwissen der Antike tradierten. Schon der Gelehrte Cassiodor hatte in seiner Bibliothek (nur noch) jenen Katalog an Büchern, der bis ins Mittelalter überliefert wurde. Damit befinden wir uns im 6. Jahrhundert schon in einer prekären Lage, was den Buchbestand der Antike angeht. Cassiodor starb (+580) im Übrigen im Zeitraum als Mohammed geboren wurde (was die Frage aufwirft, was der Islam hier genau hätte retten konnte). Für die Barbarei der Völkerwanderung kann indes kaum das Christentum verantwortlich gemacht werden.
Der Bücherverlust der Antike führt sich demnach vor allem auf die Zeitspanne zwischen dem Beginn des 3. und dem Ende des 5. Jahrhunderts zurück (bzw. die Mitte des 6. Jahrhunderts). Viele leiten her, dass die Durchsetzung des Christentums mit einer Zerstörung von Kulturgut im 4. und 5. Jahrhundert einherging. Tatsächlich existieren Überlieferung über Zerstörungen. Dass jedoch bereits die Kaiser des beginnenden 4. Jahrhunderts (so Konstantin und Julian Apostata) bereits nur noch mangelhafte Kartenkenntnisse über die eigenen Territorien besaßen, lässt darauf schließen, dass der Zerfall römischen Schriftgutes womöglich mit dem Erstarken des Christentums korrelierte, aber womöglich nicht kausal zusammenhängt. Konstantin hatte als erster Kaiser, der das Christentum tolerierte, noch kein Interesse daran, das Reich durch eine überzogene Religionspolitik zu schwächen. Edikte wie Schließungen von Akademien oder Aussetzung der Olympischen Spiele stammen aus späteren Zeiträumen. Neuere Forschungen gehen eher davon aus, dass der Bücherverlust der Antike bereits mit der Reichskrise im 3. Jahrhundert begann – damals wurden die Christen übrigens noch verfolgt.
Für einen Überblick bezüglich des sehr komplexen Vorgangs des Verlusts von antikem Wissen hätte nur ein Blick auf den Wikipedia-Artikel gereicht. Also nichts, wofür man hätte studieren müssen…
Die christlichen Kulturvernichter leisteten ganze Arbeit, auch später noch einmal, als im Zuge des byzantinischen Bilderstreits im achten und neunten Jahrhundert massenweise Kunstwerke zerstört wurden, weil die aktuelle religiöse Doktrin sie als Götzenbilder verdammte. Diese Vorgänge erinnerten daran, „dass aus dem religiösen Präjudiz nicht nur schöne Dinge, sondern auch ein Erbe an Grausamkeit, Zerstörungswut und Dummheit hervorgingen“, schreibt Watson. Auch da denkt man unwillkürlich an IS und Taliban.
Das ist eine höchst merkwürdige Argumentation, wenn man bedenkt, dass der Ikonoklasmus – also die Zerstörung von Gottesbildern – nicht zuletzt auf den islamischen Einfluss zurückzuführen war. Natürlich handelt es sich auch hier um ein vielschichtiges Problem; dass aber das Aufkommen einer neuen Religion, die wohl selbst als ikonoklastische, christliche Häresie das Licht der Welt erblickt hatte, und direkt vor der Haustüre des Oströmischen Reiches entstand, eine Wirkmächtigkeit entfaltete, ist wohl kaum von der Hand zu weisen. Das Vorbild findet sich übrigens in Mekka: dort hatten die ersten Muslime die Götzenbilder in der Kaaba gestürzt. Der Vergleich enthält also ein Höchstmaß an Ironie, weil hier der Islam tatsächlich das Abendland inspiriert hat – aber auf eine Weise, die dem Spiegel-Redakteur komplett entgeht…
Hätten Araber und Perser nicht viele antike Schriften gerettet, noch weit mehr von der Geistesgeschichte des Abendlandes wäre verlorengegangen. Zu unserem Glück flossen die Ideen und das Wissen schließlich aus dem arabisch-persischen Raum zurück nach Europa. „In den frühen Jahrhunderten islamischer Herrschaft scheint es einen regen gesellschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den drei Religionen gegeben zu haben“, schrieb der berühmte libanesisch-britische Orientalist Albert Hourani in seiner umfassenden „Geschichte der arabischen Völker“. Anders als im christlichen Abendland herrschte in der arabischen Welt damals nämlich vergleichsweise weitgehende religiöse Toleranz: „Außerhalb der arabischen Halbinsel lebten beinahe in allen Städten Einwohnergruppen, die der einen oder anderen jüdischen oder christlichen Glaubensgemeinschaft angehörten“, so Hourani.
Der Bestand der Bibliothek von Konstantinopel, der von den Venezianern 1204 geplü… in Sicherheit gebracht wurde, hatte eine weit entscheidendere Bedeutung für den Westen als Avveroes oder Avicenna. Um es mal ganz klar auf den Punkt zu bringen. Es waren nämlich diese Bücher, die später von Aldus Manutius, um 1500, in Druck gegeben wurden.
Im Übrigen kann die Anwesenheit von Minderheiten wohl kaum automatisch Toleranz bedeuten. Ägypten war im 12. Jahrhundert vor allem deswegen ein größtenteils noch christliches Land, weil die Muslime die Sondersteuer der Dhimmis schätzten. Bezeichnend, dass der Niedergang des Niltales als reichste Provinz des Orients mit der Islamisierung durch die Mamelucken einherging. Bei einer christlichen Mehrheitsbevölkerung bleibt auch erst nichts anderes als Toleranz übrig, wenn man keine Volksaufstände riskieren will. Sobald man zur Minderheit wird, sieht das freilich anders aus. Da war der Islam genauso intolerant wie alle anderen auch.
Und zuletzt: warum erzählt uns der Autor, der mit Schrecken von „Jerusalem“ erzählt, nicht einmal seinen Lesern, wie der Islam sich außerhalb dieser „arabischen Halbinsel“ verbreitete, wo es diese ganzen Minderheiten gab?
Im medizinischen Bereich war der Wissenstransfer sogar noch nachhaltiger: Bis ins 15. Jahrhundert profitierten Ärzte in Europa, eingeschränkt durch die Wissenschaftsfeindlichkeit der kirchlichen Obrigkeit, von den Kenntnissen persischer und arabischer Mediziner in der Tradition Ibn Sinas – bekannt aus dem „Medicus“.
Die erste medizinische Fakultät gründete sich bereits im 11. Jahrhundert in Salerno. De facto haben jüdische Ärzte in Südeuropa eine größere Bedeutung gehabt als theoretisches Wissen aus dem Orient. Schon im Mittelalter gab es eine reichhaltige Badehauskultur. Das alles vor dem 15. Jahrhundert…
Ohne die arabische Welt, ohne den Islam, wären weite Teile dessen, was wir heute als abendländisches Kulturerbe betrachten, für immer verschwunden. Der Islam wird heute von seinen Kritikern als Religion der Barbarei dargestellt, die christliche Tradition dagegen als tolerant und aufgeklärt. Das eine ist so falsch wie das andere. Tatsächlich ist das, was wir heute als abendländische Tradition begreifen, nicht zuletzt der Abkehr von der Religion und der Hinwendung zur Vernunft zu verdanken – in der Antike ebenso wie im Zeitalter der Aufklärung.
Wir alle wissen, welch Hort des Unwissens und der Kulturlosigkeit die Spanne zwischen Antike und Aufklärung in Europa der Religion wegen war. Dante, Thomas von Aquin, Scotus, Albertus Magnus, Boccaccio, Petrarca, Alfons X., Erasmus von Rotterdam… nein, ich spinne dergleichen jetzt nicht fort. Zwei der schillerndsten Persönlichkeiten des Rationalismus, Cartesius und Newton, waren Geistliche.
Allein der Fehlschluss, in der Antike hätte „Vernunft“ und „Abkehr von der Religion“ eine Rolle gespielt, bedürfte einer ganz eigenen Abhandlung. Tatsächlich waren in Rom Religion und Politik so stark verbunden, dass der Kaiser zugleich Pontifex Maximus war. Eine Verwebung, wie sie der Islam heute noch kennt – im Gegensatz zum Christentum, das, beginnend mit Augustinus und fortgeführt im Investiturstreit, Renaissance, Reformation und letztlich (!) Aufklärung einen anders gearteten Weg einschlug. Denn die entscheidende Frage lautet doch wohl: wenn das Abendland doch so stark vom Islam befruchtet wurde, warum schafft es denn der Islam trotz Befruchtung durch das Abendland nicht, etwas von der Aufklärung aufzunehmen? Und warum findet Aufklärung fast nur dort statt, wo entweder das Christentum oder totale Säkularisierung Fuß fassen?
Vielleicht – so ein Gedanke – haben Aufklärung und Christentum (zumindest historisch) doch etwas miteinander zu tun…