Palio

16. August 2016
Kategorie: Das Palatina-Paradoxon | Europa | Freiheit | Hintergrund und Schreibarbeit | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Ironie | Italianità und Deutschtum | Mittelalter | Palatina | Persönliches | Philosophisches | Regionalismus | Zum Tage

Heute findet in Siena der Palio statt. Ein Ereignis, das einen nicht ganz unbeträchtlichen Wert in meinem künstlerischen und geistigen Leben hat. Der Palio ist brutal, archaisch und identitätstiftend. Will man lernen, was Völker und Gemeinschaften bindet, muss man nach Siena gehen. Ein Pferderennen ist es nicht; sondern Krieg zwischen den verschiedenen Stadtteilen mit ihrem Patron, ihrer Geschichte und ihrem Pferd. Ein blutiger Krieg, weshalb auch Tierschützer immer wieder das Ende der jahrhundertelangen Tradition fordern. 2007 konnte ich das Rennen, das zu Ehren Marias einen Tag nach der Aufnahme in den Himmel stattfindet, selbst erleben. Wer nicht weiß, wovon ich spreche:

Ich hatte vor, dieses Thema heute, auch im Zusammenhang mit den Kategorien christlich-abendlicher Identität Europas, Regionalismus, Mythos und Olympia zu besprechen. Leider erlaubt es mir die Zeit nicht, weshalb ich mir etwas anderes dachte; statt zu erklären, was der Palio ist, was er für Siena, was er für Europa bedeutet… zitiere ich einen Text, der jener Geschichte entstammt, an der ich seit längerer Zeit schreibe. Denn der Palio von Siena hat seinen Niederschlag in Palatina gefunden, jener idealen Renaissancestadt, die zugleich italienisches Utopia wie italienisches Faktum ist.

Defensive Stille. Sie herrschte innerhalb unterirdischer Mauern aus dem Mittelalter. Fackeln ruhten in den Halterungen unterhalb spätromanischer Bögen. Das Feuer prasselte nicht, knackte nicht. Selbst die Posaunen und Trompeten, die den Beginn des Neuen Jahres verkündeten, gingen auf dem Weg zwischen Paulusplatz, Mauer und Keller verloren. Übrig blieb nur jene Ruhe, die diese Krypta seit mehr als zweihundert Jahren bewohnte. Sie wollte nicht weichen. Sie verteidigte diese kleine Kapelle im Schatten des Ölbaums am Paulusplatz und der mächtigen Kirche von San Paolo. Draußen, wo jetzt Fahnenträger, Wächter und Musikanten unter Gesängen und Rufen zum Zentrum der Stadt paradierten, ging das unscheinbare Gotteshaus in der Welt unter. Doch die Welt hörte an der Pforte dieses Hauses auf.
Deshalb nannte Lidia diese Stille defensiv. Sie hielt alles draußen. Und sie genoss die Ruhe im Auge des Sturmes, der in Palatina tobte.

Dies war die Keimzelle San Paolos. Ein unscheinbarer Bau. Zusammengeflickt aus Lehmziegeln und den Ruinensteinen eines antiken Tempels. Das Viertel, welches der Mandro von San Pietro trennte, und der Rio von der Insel der Città Nuova schied, war das kleinste und das jüngste. Im Mittelalter hatte hier der Bettelmönch Orso Grassi gepredigt, der aufgrund einer falsch ausgelegten Bibelstelle an den Kreuzzügen teilgenommen hatte, statt die Reisen des Apostels Paulus nachzustellen. Der Irrtum stellte sich erst bei der Landung in Akkon heraus. Auf der Rückreise, welche der Franziskaner zumindest ansatzweise dem großen Vorbild nachempfand, sollte er sogar angeblich das Schwert finden, mit dem man Paulus in Rom hingerichtet hatte. Auf wundersame Weise, wie die palatinischen Legende erzählte.* Bei seiner Heimkehr nannte ihn das Volk daher Fra’ Paulino: kleiner Paulus.

Zum Leidwesen der Palatiner setzte er das rostige Teil von da an immer wieder ein – meistens, wenn er sich in Prügeleien verrannte.
Die Fresken in der Krypta erzählten daher anschaulich die verschiedenen Stationen und Wunder im Leben des Orso Grassi. Die Szene, in der er das aufgebrachte Volk beruhigte – indem er es anbrüllte. Die Geschichte, in der er einen Heiden taufte – indem er ihn von der Brücke stieß. Das Gottesurteil, das Orso Grassi Recht gab – weil er zwei Geistliche die Nasen gebrochen und diese so lange verprügelt hatte, bis sie sich nicht mehr regten. Und die große Heilung eines Besessenen, den der cholerische Frater so lange mit einer Sandale traktiert hatte, bis der Teufel aus ihm gefahren war.

Jene Heilige Badelatsche des Fra’ Paulino galt bis zum heutigen Tag als eine der kostbarsten Reliquien dieser Kapelle, San Paolos und ganz Palatinas, und prangte unterhalb der Apsis des Gotteshaus in einem Kasten aus Gold, Silber und Elfenbein – dahinter ein Wandmosaik, das eben jenen Orso Grassi zeigte, der wie cholerisch auf sein Opfer einprügelte.

Es war natürlich offensichtlich, dass ein Mann von so großer Heiligkeit schnell auf Widerstand stieß. Zuletzt wählte Grassi das Eremitendasein, fuhr auf die andere Seite von Rio und Mandro, wo außer der Ruine eines Tempels der Minerva kein einziges Haus stand. Ein Ölbaum, der seit Jahrtausenden dort wucherte, und dessen Stamm einen Hohlraum beherbergte, diente ihm als nächtlicher Unterschlupf. Seine letzten Lebenstage verbrachte er damit, aus den Steinen des Minervenheiligtums jene Kapelle zu bauen, in deren Mitte Lidia heute stand. Nach seinem Tod verbreitete sich sein Ruf über die Toskana und Latium hinaus bis zu den Alpen und nach Sizilien; Pilger drängten nach Palatina, um das Grab zu sehen, versprachen sich Wunder und Segen. Da einige der Reisenden in Palatina blieben, statt zurückzukehren, und Geschäftemacher ihre Läden am Ölbaum eröffneten – von Wäschereien, Gaststätten, Hospizen bis hin zu Andenkenbuden mit Olivenzweigen und kitschigen Hermelinporzellanfiguren schoss so ziemlich alles aus dem Boden, was man sich vorstellen konnte – bildete sich bald um die Grabstätte des Paulino jenes Viertel, das man dem Apostel Paulus weihte.

Aus irgendwelchen Gründen, die sich die Palatiner nicht erklären konnten, antwortete Rom nämlich nie auf die vielen Anfragen bezüglich einer Kanonisierung des Lokalheiligen. Um nicht in den Verdacht der Häresie zu geraten, widmete man bald dem Apostel Paulus eine Kirche daneben, um in dessen Windschatten aus Orso Grassi doch noch Profit zu schlagen.

Heute überragte die Kirche von San Paolo die Kapelle von San Paulino. Nicht zuletzt, weil der Baumeister der Stadt seit Jahren diese umbauen ließ. San Paolo war eine ewige Baustelle. Der exzentrische Architekt schreckte dabei nicht davor zurück, eine bereits fertig gestellte Fassade einzureißen, wenn sie ihm nicht mehr passte. Die Kuppel von San Paolo sah man bereits über Meilen.

Doch heute klang kein Hammer von der Baustelle nebenan. Alles sog die Grabesruhe ein. Der Dienst eines Cholerikers, der zu Lebzeiten nie geruht hatte. Die Pauliner waren eigenwillig, wie alle Palatiner. Umso mehr, weil sie sich immer wieder bewähren mussten. Sie besaßen kein antikes Erbe. Bei den ersten Palii des Mittelalters hatte San Paolo nicht einmal existiert.

Umso breiter wurde Lidias Lächeln, wenn sie durch dieses Allerheiligste ihres Viertels schritt. An einem Wald aus Tüchern vorbei. Der Heilige Leo, Stadtpatron Palatinas, grüßte darauf. In verschiedenen Farben. Verschiedenen Darstellungen. Mit Sternen. Streifen. Zusammen mit Maria, Peter und Paul.
Zeugen der Siege, die das kleine Viertel zwischen Rio und Mandro errungen hatte. Goldene Stickereien verewigten die Namen und Jahre darin. Der olivgrüne Handschuh berührte schneeweißen Stoff, fuhr über die Erinnerungen.

Giovanni Albizzi. Sieben Siege.
Rinaldo Albizzi. Drei Siege.
Leonardo Albizzi. Vier Siege.

Der Palio war kein Sport. Er war auch kein bloßes, soziales Ereignis. Er war kein Spiel, bei dem es einzig um Zusammengehörigkeit ging. Natürlich: das war ein Effekt. Einer, den die Oberhäupter der Republik stets verwendet hatten. Sozialer Kitt, der die Stadtteile untereinander – und die Republik als solches zusammenhielt. Weil es dann keine Rolle spielte, wie reich jemand war oder aus welcher Familie man stammte. Aber da war mehr. Menschen, die den Palio nur darauf zurechtstutzten, verstanden ihn als bloßes Instrument.

Das war aber nicht der Kern. Es war die Hülle, der Körper des Palio.

Seine Seele ruhte jedoch in Sälen wie diesen. Der Palio, das war: Tradition. Mythos. Kontinuität. Es war kein profanes Ballspiel, das man kommerziell in der ganzen Welt verbreiten konnte, um ein irgendwie geartetes Gemeinschaftsgefühl zu formen, oder möglichst viel Zuckerwasser zu verkaufen. Den Palio, als Rennen mit seinen Stadtteilen, mit dieser Strecke, durch diese Straßen, vor diesem Panorama, mit seiner barbarischen Wildheit und Regellosigkeit – den gab es nur hier, in Palatina. Sport konnte man in die Welt exportieren. Den Palio konnte man so wenig von Palatina trennen wie das Petrusgrab von Rom. Ja, es war möglich; doch es war ein Sakrileg. Das war das richtige Wort.

Denn der Palio war heilig.

Der Siegespreis war keine goldene Statue oder ein Silberteller. Es handelte sich um ein Tuch. Darauf nur das Bildnis des Heiligen Leo, des Stadtpatrons und des Beschützers der Republik. Jedes Palium war individuell gestaltet. Zu jedem Palio fertigte ein von der Republik auserkorener Künstler ein neues Tuch an. Aber auch, wenn das Tuch ein Unikat blieb: sein materieller Wert nahm sich bescheiden aus. Das Pallium hatte keinen Wert als solches; ausländische Experten hatten daher behauptet, das Pallium sei ein Symbol. Das war Unfug. Das Pallium war mehr als das.

Es war fleischgewordener Mythos. Es hatte den Charakter einer Monstranz, einer Ikone, einer Reliquie. Die Palatiner glaubten, dass der Heilige Leo in diesem Stück gegenwärtig war. Wer das Pallium verunehrte, womöglich, weil es zufällig durch den Dreck schliff – dem drohten Bußstrafen. Bis hin zur Verbannung. Selbst wenn es der Fantino war, der das Pallium eben noch gewonnen hatte.

Der Palio war Palatinas heilige Prozession. Auch wenn es nicht mehr alle wussten. Die Fantini stritten um die Ehre ihres Stadtteils. Sie erlitten das Martyrium, um nicht in Ungnade zu fallen. Jeder wichtige Ort, jeder wichtige Platz in der Geschichte der Stadt war Teil dieses Umzugs. Die Palatiner waren das Schutzvolk des Heiligen Leo, der als Papst die Hunnen gebannt hatte – und die Stadtteile ritten um seine Gunst. Das war der transzendente Kern. Der Erwerb des Heiligentuches bedeutete den Gnadenbeweis. Auserwähltheit. Erlösung.

San Leone war bei dem Spektakel selbst präsent. Das hatte Lidias Vater geglaubt. Und alle anderen Fantini, die mehrfach das Tuch gewonnen hatten.
Und es ruhte eine Tradition in all diesem Geschehen, von dem jeder, mochte er spirituell veranlagt, historisch gebildet oder nur demütig sein, zutiefst überzeugt war. Pferde hatten schon bei den Etruskern vor zwei Jahrtausenden als heilig gegolten. Der Respekt vor diesen Tieren rührte aus prähistorischen Zeiten. Dass das erste Pferd, nicht der erste Reiter über den Sieg eines Stadtteils entschied – war das offensichtlichste Relikt eines Kultes, der die Mitte Italiens niemals verlassen hatte.

Am Tag des Palio wurde deutlich, dass Palatina eine Republik war. Hier herrschte kein Monarch, der sich von Gott auserkoren sah. Keine Clique von Aristokraten, die ihre Herkunft auf mystische Vorfahren zurückführten. Kein Tyrann, der nur deswegen herrschte, weil sein Vater bereits Bauern hatte hinrichten lassen.
In Palatina rotierten die Ämter. Dogenberater, Minister, Senatoren, Ratsherren oder Dogen kamen und gingen. Sie waren zuletzt San Leone verpflichtet. Keinem König oder Kaiser, die beide zu Staub verrotteten. San Leone blieb ewig. Und damit der Palio als fleischgewordener Ausdruck der Ewigkeit. Eine Rennbahn war wie ein Ziffernblatt. Man kehrte immer wieder zur Zwölf zurück. Das war das Prinzip des Kreises. Des Zyklus.
Der Kontinuität.

»San Leone und San Paolo stehen mir bei.«

Lidia kniete nieder, fasste nach den Palii, die ihr Vater, Onkel und Großvater erkämpft hatten, spürte den Stoff, schloss die Augen – und wusste, dass sie Teil all dessen war. Als Albizzi. Als Paulinerin. Als Palatinerin.
In Ewigkeit.

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*Bei einem zwielichtigen Pfandleiher in einer Hintergasse in Trastevere, um genau zu sein.

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