Der Löwe hält bekanntlich die Renaissance für einen, wenn nicht den Höhepunkt des menschlichen kulturellen Schaffens und fühlt sich mental in dieser Umgebung am wohlsten. Das dürfte bereits allein die Aufmachung dieser gesamten Seite verraten. Umso eher müsste er sich bei solchen Artikeln heftig wehren: Die Renaissance war die absolute Hölle.
Aber fühlt er sich denn wirklich angegriffen? Nun, in dem Artikel existieren einige Unklarheiten und Aussparungen. Denn Autor Dirk Schümer, den man noch aus FAZ-Zeiten kennt, entscheidet sich an keiner Stelle definitiv, wie lange und wo die Renaissance denn andauerte. An einer Stelle wird grob „ab 1400“ erwähnt, an anderer Stelle weitet er die Epoche bis 1600 aus. Dabei wird bereits deutlich, dass das „dunkle Zeitalter“ der Renaissance in seiner Zeitspanne völlig überdehnt wird. Zudem ist die Renaissance ein regionales, dynamisches Ereignis, das nicht überall gleichzeitig beginnt und auch nicht endet: so beginnt in Spanien das „siglo d’oro“ erst, als es in Italien bereits seit einer Generation vorüber ist.
Auch die Aussage Professor Bernd Roecks von der Universität Zürich wird hier – meiner Meinung nach – verkürzt widergegeben. Natürlich war das Mittelalter ein Zeitalter der Erfindungen und Neuerungen! Das sollte sich eigentlich mittlerweile auch außerhalb der Geschichtswissenschaften rumgesprochen haben. Das bedeutet aber im Gegenzug nicht, dass die Renaissance keines wäre; insbesondere, wenn man die Renaissance als die Grundlegung europäischer Dominanz – politisch wie kulturell – ansieht. Denn es ist dieses Zeitalter, in der Kartographie, Schiffsbau und Navigation jene entscheidenden Fortschritte machen, die Europa die Entdeckung und Eroberung des Globus erst ermöglichten.
Insofern wirkt diese Argumentation merkwürdig, auch bezüglich des erwähnten Universitätswesens, das natürlich im Mittelalter begann. Was Schümer aber auch hier als Widerspruch aufbaut, ist keiner: in der Renaissance entwickelten sich Akademien als Verbünde von Intellektuellen, organisierten Fürsten Lateinschulen und die Gefährten des Ignatius von Loyola die Jesuitenschulen. Die Renaissance leitet also hier einen neuerlichen Bildungsschub ein, bei dem der Buchdruck eine wesentliche Rolle spielt – und das ist wiederum eine nicht unmaßgebliche Neuerung, die nur der Renaissance zu Eigen ist. Die Arbeit der Jesuiten auf die „erbarmungslose Lehre der siegreichen Papstkirche“ zu reduzieren, ist daher in erster Instanz verkürzt, in zweiter Instanz verleumderisch.
Ein grundlegendes Problem stellt daher die bereits erwähnte Datierung dar, wenn Schümer von einer Gewaltepoche spricht. Die eigentliche Renaissance, die in Italien etwa ab 1450 zu blühen begann, fällt auf der Halbinsel in eine 40jährige Friedensphase, die bis 1494 dauert, als die Franzosen in Italien einfallen. In Europa halten sich die Konflikte in Grenzen: im selben Zeitraum toben in Spanien und England Thronstreitigkeiten, in Mitteleuropa die Burgunderkriege. Dabei handelt es sich aber – im Vergleich zu den Jahrhunderten davor – um überschaubare Kriege, ganz im Gegensatz zum großen 100jährigen Krieg zwischen England und Frankreich, der von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis 1453 dauert. Und das ist in der traditionellen Geschichtsschreibung immer noch ein mittelalterlicher Konflikt.
Warum die „Renaissance“, also die wortwörtliche Wiedergeburt, so gut wegkommt, liegt darin begründet, dass das 14. Jahrhundert davor, das man allgemein als „Spätmittelalter“ bezeichnet, ein Krisenzeitalter war – weit mehr als die hier als „barbarisch“ bezeichnete Renaissance. Neben dem großen Krieg zwischen England und Frankreich, der nicht nur das französische Festland verwüstete, sondern auch die Verbündeten beider Parteien hineinzog, tötete die Pest ein Viertel der gesamten europäischen Bevölkerung. Weite Landstriche wurden entvölkert, Mangelernährung, ökonomische Engpässe und Aufstände in den Städten Europas gehörten zur Tagesordnung.
Gegen diese Katastrophe wirken die Jahre von 1450 bis 1500 als goldenes Zeitalter, und so kam es den Einwohnern in den Grenzen Italiens, des Heiligen Römischen Reiches, Polen-Litauens und Ungarns auch vor. Frankreich erholte sich vom 100jährigen Krieg und restaurierte seine Macht. Aragon, Kastilien und Portugal führten einen letzten Krieg gegeneinander in Iberien, bevor die Spanische Hochzeit zwischen Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon zu einer Personalunion der iberischen Reiche führte, die wiederum den Grundstein für eine Friedensphase und die spätere spanische Monarchie legte. Selbst die Türkenbedrohung hatten die Ungarn 1456 vorerst getilgt.
Dass Schümer Petrarca „schon“ zur Renaissance zählt und den Dreißigjährigen Krieg „noch“ dazu, ist das Grundproblem dieser ganzen Anschauung. Die Datierung geht hier tief in den Barock rein, der in der Tat um einiges religiöser ist. Allerdings sind das Überpinseln von Genitalien oder der Aufstieg von Predigern wie Luther und Savonarola bereits Reaktionen auf die Renaissance, und nicht ihr eigentlicher Teil. In Italien gilt, dass die Italienkriege ab 1494 das Ende (!) der Renaissance einläuteten, das Sacco di Roma (1527), die Plünderung Roms, gilt als endgültiges Fanal. Dass auf diesem Diarium immer wieder die eher zerstörerische Kraft des Luthertums denn ihre Innovation beschrieben wurde, unterstützt doch vielmehr die These des Löwen, dass für die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ähnliches gilt: ab ca. 1520 endet auch hier das Zeitalter des Freigeistes zugunsten von Konformität, Religiosität und einer Rückkehr zu den alten Werten. Luther ist kein Reformer, er ist im besten Sinne ein Reaktionär. Die Protestanten wollen ja keine „neue“ Kirche, sie wollen die alte! Wenn die Renaissance wirklich so „tiefreligiös“ gewesen wäre, hätte man Rom kaum so aufrütteln müssen.
Die Jahre von 1520 bis 1650 sind also mitnichten „Triumphzeit der Renaissance“ – hier irrt meiner Ansicht nach auch die zitierte Annales-Schule – sondern sie ist im Grunde (in vielen Regionen, wenn auch nicht allen) bereits vorbei.
Unter Historikern neigt man dazu, den Zeitraum ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eher als Zeitalter der Konfessionalisierung zu bezeichnen, also als Epoche, in der sich in Europa die Konfessionen Katholisch, Lutherisch und Reformiert auseinanderdifferenzieren und ihre Identität annehmen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der weltlichen Gewalt. Rom antwortet bekanntermaßen mit dem Trienter Konzil, um die Kirche mit neuer Kraft gegen die Reformation auszustatten. Gleichzeitig wird beschlossen, Michelangelos bisher nackten Heiligen des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle züchtig zu bekleiden. In Italien wird diese Epoche daher in der Kunst auch nicht mehr Renaissance, sondern Manierismus genannt.
Auch der Hexenwahn nimmt erst im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, im Zuge des Beginns der Kleinen Eiszeit, an Fahrt auf. In den 1560ern verlegt sich bspw. die Weingrenze deutlich nach Süden, viele Bauern verarmen. Der Hexenhammer stammt zwar vom Ende des 15. Jahrhunderts, aber der Hexenwahn bricht sich vor allem dort Bahn, wo die Autorität der Kirche kollabiert ist – dafür braucht es aber erst die Konfessionalisierung, die das katholische Monopol aushöhlt. In Spanien und Italien, wo der Katholizismus stark bleibt, wird keine einzige Hexe in all den Jahrhunderten verbrannt. Auch das ist bereits das Gegenzeitalter zur Renaissance, nicht die Renaissance selbst: der Barock.
Man kann nicht einerseits – wie Schümer – die „größenwahnsinnigen Päpste“ der Renaissance geißeln, und dann ebenfalls ihre prüden Nachfolger kritisieren, ohne dabei wenigstens den Bruch zu erwähnen, den es im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts gab. Das sollte eigentlich ins Auge fallen; ebenso, dass speichelleckende Humanisten ja nun keine Erfindung und auch kein Alleinstellungsmerkmal der Renaissance sind (ja, liebe Leute von der Presse, denkt doch mal bitte über euer Verhältnis zu den Reichen und Mächtigen nach). Und dass Kunst von Kirchen, Fürsten und wohlhabenden Sponsoren finanziert wurde – was ist daran auszusetzen? Das war im Mittelalter ebenso, und selbst in der Musik noch Gang und Gebe bis in Beethovens Zeiten. Die Neuerung der Renaissance ist, dass das künstlerische Individuum aus dem Schatten seines Auftragsgebers heraustritt, und der Kunst seinen eigenen Stempel aufdrückt, statt in der Anonymität zu bleiben.
Schümers grundlegende Kritik, dass die schönen Bilder die Makel der Renaissance wegglänzten, ist im Grunde keine. Die Renaissance war in ihrem Elend nicht anders als andere Menschheitsalter. Nur: sie besaß eben einen Fundus an Kunst und Kultur, an technischer Innovation, Weltentdeckermentalität und Aufbruchsstimmung, die keine Epoche davor und danach hatte. Ein Zeitalter, in das zwei Weltkriege fallen, die durch nichts ähnliches übertüncht worden sind, was in der Liga von Michelangelos David oder Raffaels Sixtinischer Madonna spielt, sollte sich dagegen eher demütig verhalten.
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Zuletzt ein Hinweis in literarischer Angelegenheit. Was die Datierung betrifft, so ist dieses Bild vom Untergang der Renaissance ja auch der Grund, weshalb Palatina im Jahr 1560 immer als letzte Insel der Renaissance gilt, weil sie überall sonst mit ihrem Freigeist, ihrer Kunstfertigkeit, Toleranz und Abenteuertum erloschen ist…