Es muss also ein Italiener herhalten, um den deutschen Traum der Diversity zu feiern. Lutz Wöckener entdeckt ein Symbol, ein „Traumtor gegen den Rassismus“ in einem Fußballspiel.
Der Löwe ist – das mag man erahnen – dem runden Leder nicht so sehr zugeneigt. Er kennt sich nicht mit allen Regeln aus. Aber er hat von drei Dingen besondere Ahnung: Italianità im Ausland, Venetien und Geschichte. Drei Kapitel, von denen Wöckener offensichtlich keinerlei Ahnung besitzt.
Éder ist zuerst einmal kein Afrikaner oder Muslim, sondern immer noch Nachkomme eines vicentinischen Urgroßvaters und christlicher Konfession. Der Vergleich ist insofern schief.
Noch schiefer wird er, wenn man in die Diskussion „geborener Italiener“ einsteigt. Der Streit hat nichts mit Rassismus zu tun, als vielmehr damit, inwiefern die „Italiani nel mondo“ bzw. „Veneti nel mondo“ (Italiener/Veneter in der Welt) auch Italiener sind. Ein Kapitel, das noch aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende stammt; denn Italien, das wie kein anderes Land der Welt unter dem Exodus von Millionen Menschen in die Neue Welt litt, wollte sich nicht das Potential von 100 Millionen Italienern in der Weltbevölkerung nehmen lassen. Indes Frankreich 100 Millionen Franzosen durch die Eroberung Afrikas gewinnen wollte, zeichnete sich das Königreich Italien dadurch aus, seine Staatsbürgerschaft auch noch an Enkel Italienischer Auswanderer zu vergeben – im Übrigen der Grund, warum Papst Franziskus, alias Jorge Bergoglio, als Nachkomme eines piemontesischen Buchhalters auch die italienische Staatsbürgerschaft besitzt.
Ich nutze die Gelegenheit, um etwas näher auf diese Kuriosität einzugehen. Denn im Gegensatz zur landläufigen Meinung war nicht Sizilien, sondern Venetien jene Region Italiens, die am stärksten von der Auswanderung betroffen war. Dies resultierte insbesondere aus zwei Gründen: erstens aus einer Agrarkrise, die Ende des 19. Jahrhunderts ganz Norditalien im Griff hatte, sowie speziell in Venetien eine wirtschaftliche Stagnation und Depression nach dem Abzug der habsburgischen Einrichtungen. So hatte noch Österreich in Venetien einen Teil seiner Marine unterhalten und Venedig galt als Rekrutierungsstützpunkt von Marine-Offiziere. Die Habsburger hatten sich zudem um den Ausbau der Infrastruktur verdient gemacht, namentlich den des Eisenbahnnetzes.
Im Königreich Italien war Venetien dagegen eine Randprovinz zu Österreich, die von der Industrialisierung vernachlässigt wurde, zugunsten des Dreiecks Turin-Mailand-Genua. Genua avancierte aufgrund der Verbindung nach Amerika zum wichtigsten Hafen der Halbinsel, indes die Adriaflotte in Ancona stationiert war. Das österreichische Triest hatte Venedig den Rang als wichtigste Hafenstadt der Region abgelaufen.
Unter diesem Eindruck wanderte eine beträchtliche Zahl von Venetern in die Welt hinaus. Den Höhepunkt dieser Auswanderungswelle gen Amerika verzeichneten die Jahre zwischen 1886 und 1895; ansonsten bevorzugte man europäische Destinationen, wie beispielsweise Frankreich. Zu letzteren Emigranten gehörte beispielsweise der Vater von Albert Uderzo, der Zeichner von Asterix und Obelix.
Auch beachtenswert: indes die Süditaliener nach Nordamerika auswanderten, gingen die Norditaliener vor allem nach Südamerika, und nutzten dabei die Linie Genua-Buenos Aires. Die meisten ließen sich in Argentinien nieder, wo bis heute 60% aller Menschen einen irgendwie gearteten italienischen Hintergrund haben. Dort zog es vor allem die Lombarden, Piemontesen und Ligurer hin, indes die Veneter Brasilien vorzogen. Dies lässt sich statistisch bezeugen: insgesamt wanderten von 1876 bis 1920 ca. 1,3 Millionen Italiener nach Brasilien aus, allein 370.000 stammten dabei aus Venetien; also mehr als ein Viertel der italienischstämmigen Einwanderer.
Am stärksten sind die Gebiete Rio Grande do Sul und Santa Catarina von der venetischen Einwanderung geprägt. Dort existiert eine eigene Form des Italienischen, das Talian – eine Kreolsprache aus Venetisch, Lombardisch und Portugiesisch, die aber in jeder Hinsicht eher an ersteres anknüpft. Bis heute sprechen über 500.000 Menschen diese Sprachvarietät, die besonders in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebte.
Das war im Übrigens keine Ausnahmeerscheinung. In derselben Gegend siedelten auch deutsche Siedler, die das Riograndenser Hunsrückisch als Umgangssprache verwendeten. Im Verlaufe des 2. Weltkrieges und diverserer „Nationalisierungsbemühungen“ wurden beide Sprachvarietäten zugunsten des Portugiesischen zurückgedrängt.
Éder selbst stammt aus Lauro Müller, das trotz seines Namens eine traditionell italienische Stadt ist* und in direkter Nachbarschaft zu den beiden Gemeinden Nova Veneza** und Treviso liegt. Andere Orte im selben Bundesstaat nennen sich übrigens Nova Trento, Nova Bassano oder Garibaldi.
Natürlich ist Éder nach vielen Generationen „brasilianisch“ sozialisiert. Andererseits ist der Fußballspieler bei diesem Hintergrund mit Sicherheit alles andere als ein Opfer von Rassismus. Er teilt das Schicksal der Formel-1-Fahrer Rubens Barichello, Felipe Massa, Emerson Fittipaldi und Ayrton Senna; sowie seines Fußballkollegen Thiago Motta, der ebenfalls „naturalizzato“ ist, heißt, mittlerweile Träger der italienischen Staatsbürgerschaft wie Éder, weil auch dessen Urgroßvater Italiener war, und deshalb Anrecht auf diese hat.
Insofern ist auch die Vergabe derselben an Éder im Grunde weiterhin eine Sache des ius sanguinis, und nicht ius soli gewesen. Die Abstammung spielte eine Rolle (!), nicht der Geburtsort. Die Diskussion in Italien entzündete sich daher auch nicht zuletzt bei Éder, warum in Italien geborene Italiener gegenüber jenen aus dem Ausland das Nachsehen hätten, wenn es zur Wahl der Nationalmannschaft käme, und keine prinzipielle um „Ausländer“. Denn bar jedweden Rassismus: nicht trotz, sondern wegen ihrer Blutsverwandtschaft wurden zwei Auslandsitaliener Mitglieder der Nationalmannschaft, weil sie ansonsten die Staatsbürgerschaft nicht so einfach hätten reklamieren können.
Es ist also genau das Gegenteil dessen, was Wölkener postuliert. „Rasse“ hatte gerade im Falle Éder eine Rolle gespielt, getreu dem Motto: Italianità verwässert auch nach Generationen nicht. Klingt hart nach Ideologien des letzten und vorletzten Jahrhunderts, aber der Rechtsstatus hat sich nicht geändert. Éder hat im Übrigen bereits in Interviews erwähnt, dass noch seine Großmutter nur auf Italienisch sprach, und nur außerhalb ihres Hauses Portugiesisch gesprochen werden durfte – und ihm Freunde immer nachsagten, italienischen Akzent zu besitzen.
Ironischerweise ist es demnach gerade das ius soli, also das Geburtsrecht des Ortes, das als Argument gegen Éder geführt wird.
Kurz: wollte man den Fall Éder mit Deutschland vergleichen, könnte man genauso gut einen Pennsylvania-Deutschen in den Kader aufnehmen, und den dann als Beispiel für gelungene Integration auf eine Stufe mit einem Eritreer stellen. Vergleichen kann man viel – gleichsetzen jedoch nicht.
Und um den Beitrag mit einer Anekdote abzurunden… bereits bei der Weltmeisterschaft 2006 trat der gebürtige Argentinier Camoranesi (!) für Italien an, nachdem er 2003 die Staatsbürgerschaft aufgrund seines Urgroßvaters erlangt hatte. Seine Vorfahren kamen aus den Marken. Despektierlich nannte ihn mein Vater deswegen „Terone“ – der Schimpfname der Norditaliener für Süditaliener.
Manchmal zeugen auch Beleidigungen von unterstellter Italianità.
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*Der Name leitet sich vom brasilianischen Politiker Lauro Servatio Müller ab.
**Nova Veneza, ohne i. Dafür existiert auch noch ein Nova Venécia im Bundesstaat Espirito Santo.