CoRAGGIo

21. Juni 2016
Kategorie: Europa | Freiheit | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Regionalismus

Virginia Raggi hat es also geschafft. Mit einem dicken Vorsprung gewinnt die grazile Römerin am Sonntag die Kommunalwahlen. 67% gegen 33% ihres Gegners Roberto Giachetti. Die Ewige Stadt wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte von einer Frau als Bürgermeisterin regiert.

Raggi gehört Beppe Grillos 5-Sterne-Bewegung an. Man mag zum Parteichef und dem politischen Projekt stehen wie man will. Der Movimento 5 Stelle (M5S) hat in den letzten Jahren ordentliche Bewegung in die Parteilandschaft gebracht. Und Rom ist nicht der einzige Ort: in Turin, der alten Industriestadt des Piemont, gewinnt ebenfalls die Kandidatin des M5S.

Der „Movimento“ kommt in der deutschen Landschaft nicht gut weg. Man kann die Tagesschau einschalten, die Welt lesen – man liest von einer „Protestkandidatin“, von einer „europakritischen Partei“ und (natürlich!) von Populismus. Man kennt diese Parolen. Der M5S hat nie einen Hehl daraus gemacht, die Kaste und damit das „System“ zu bekämpfen. Gegen Korruption, für mehr Ökologie, Infrastruktur und saubere Politik. Wenn die Grünen das in Deutschland fordern, ist es „nachhaltig“, wenn es der M5S tut, ist es „populistisch“.

In der Tat: in einer völlig überschuldeten und verfilzten Stadt wie Rom erscheint es unmöglich, etwas zu ändern. Aber das muss man den Italienern lassen: sie geben sich dem nicht hin – ganz im Gegensatz zu den Deutschen, die seit Jahrzehnten ihr Kreuz an derselben Stelle machen, sind die Italiener seit den 90ern aufgewacht und suchen einen Ausweg aus den Krakenarmen der allmächtigen Parteipolitik. Man wählt jeweils die Partei, die neu ist, als unbescholten gilt. Die Deutschen lamentieren lieber.

Die Italiener haben bereits 2013 dem M5S 20% ihrer Stimmen bei der letzten Parlamentswahl gegeben. Jetzt folgt die politische Partizipation.

Die Gegnerschaft der Etablierten, die um ihre Pfründe fürchten, schlägt sich nicht nur in der Verwurstung altbekannter Parolen nieder. Auf den letzten Metern zur Bürgermeisterwahl wollen der Fatto Quotidiano und die Repubblica Raggi einen politischen Skandal anhängen, nur wenige Tage vor dem Urnengang. Angeblich hätte die Anwältin Nebeneinkünfte nicht in ihrer Zeit als Senatorin des Stadtrats angegeben. Raggi bestritt das. Nunmehr kommt raus: die Intrige wurde vom sozialdemokratischen Partito Democratico geschürt, dem der Rivale Giachetti und auch Premierminister Renzi angehört.

Renzi fürchtet sich vor Raggi aus zwei Gründen: erstens aus prinzipiellen Motiven, da ein Bürgermeister des M5S in der Hauptstadt Signalwirkung in der Politik hat; zweitens, weil Raggi gegen eine Olympiabewerbung Roms ist. Das Prestigeprojekt will der Ministerpräsident natürlich nicht aufgeben, nur, weil eine närrische Bürgermeisterin von irgendwelchen dahergelaufenen Populisten das Geld lieber für Busse und Straßen ausgeben will.

An der Berichterstattung zu Raggi wird jene Querfront, die auf „rechter“ Seite herbeigeredet wird, auf der etablierten Seite des Parteispektrums sichtbar. Sie erstreckt sich nicht nur innenpolitisch, sondern global. Und es gibt immer nur eine Stoßrichtung: jene der politischen und medialen Eliten gegen alle Emporkömmlinge, die ideologisch nicht auf Linie sind. Das sind in Italien die Lega und der M5S; in Frankreich der Front National; in der Niederlande Wilders; im Vereinigten Königreich UKIP; in Griechenland alle Parteien außer der Nea Demokratia und Pasok, also jenen alten Blöcken, die erst für die missliche Lage von Hellas verantwortlich waren. Ein Muster wird ganz deutlich: denn obwohl Welten zwischen der griechischen Linkspartei Syriza und der FPÖ von Stracher liegen, haben die Quantitätsmedien keinerlei Skrupel, Zusammenhänge zu konstruieren.

Sie nennen es Populismus.

Er weitet sich bis über den Atlantik aus. So ist nicht etwa Hillary Clinton, die ihre Befugnisse nachweislich missbrauchte, um dann tausende Emails zu löschen; die sich in ihrer Position als Außenministerin nicht nur blamierte, sondern überdies als inkompetent erwies; die gleichermaßen an den Geldtöpfen der großen Finanzinstitute und anderer zwielichtiger Unterstützer hängt; und zuletzt ganz öffentlich verlautbart, gegen Russland härtere Gangarten geschaltet zu haben, wenn dies möglich gewesen wäre (Krieg einbegriffen); also, nicht etwa diese erwiesenermaßen gefährliche, korrumpierte und inkompetente Politikerin, welche seit Jahrzehnten dem Establishment der Ostküste vorsteht und großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung verhasst ist, gilt als große Gefahr für den Weltfrieden, sondern ein Multimilliardär, der sein Leben lang unzählige Menschen in Lohn und Brot brachte, einen Ausgleich mit Russland suchen will, als TV-Star Erfolge feierte und zeitweise als einer der beliebtesten US-Bürger überhaupt galt; ja, dieser, letztere von den Medien guillotinierte Mann, dem man nicht mehr anlasten kann als ein paar besonders blöde Sprüche über ethnische Minderheiten und der skandalösen Ankündigung (!) des Ausbaus eines sowieso schon existenten Zauns zu einer Mauer – genau dieser Mann gilt heute als das größte Ekelpaket seit den Zeiten des böhmischen Gefreiten.

Wo bitte sind hier die Relationen? Wo das Maß? Wo die nüchterne Betrachtung der Faktenlage?

Ich bin Machiavellist. Elfenbeinturmbewohner sprechen von einer machiavellistischen „Elitentheorie“, demnach eine Elite immer die Macht gegen alle anderen verteidigt. Elfenbeinturm deswegen, weil jeder normale Mensch dieses Phänomen durch die Jahrhunderte beobachten kann. Das ist keine These, keine Theorie, sondern gelebtes Menschsein und Machtstreben.

Die Völker der nordwestlichen Hemisphäre werden von den eigenen Leuten, die sie über Zwangsgebühren bezahlen, gleich, ob es sich um Politiker oder Journalisten handelt, als Wutbürger tituliert, oder für dumme Schafe gehalten, die Demagogen folgen. In Zeiten, in denen ein islamistischer Anschlag als homophober Amoklauf gehandhabt wird, und in aller Schnelle abgehandelt wird, um die Angelegenheit nicht von den Falschen instrumentalisieren zu lassen – nur, um wenige Tage später beim Mord an einer Brexit-Gegnerin genau das zu tun, nämlich das Attentat zu instrumentalisieren gegen alle bösen Brexisten.
Wer spielt in diesem Falle die Rolle des echten Demagogen?

Womit wir bei der nächsten Nagelprobe wären. Am Donnerstag wird die ganze Welt nach Britannien blicken. Vor „Jo Cox“ war ich tiefster Überzeugung, dass dieser Brexit unumgänglich sein wird. Aber nunmehr erinnert mich vieles an das Schottland-Referendum. Die Briten können schon per se nicht verlieren, weil sie – wie die Schotten vor ihrem Referendum – sich so viele Privilegien herausgeschlagen haben, dass sie bereits einen Sieg errungen haben.

Aber – niemand kann absehen, wie lange diese Privilegien halten. Diese EU, und ihr gesamter polit-medialer Anhang sind völlig unberechenbar. Die Politik hat alle Verträge gebrochen: Maastricht, Schengen, Dublin. Die Presse bejubelt das auch noch, statt es zu kritisieren. Ebenso steht es in den Sternen, wie viel die britischen Privilegien wert sind, wenn es sich die Kommission anders überlegt. Großbritannien kann sich seiner Zukunft nur sicher sein, wenn es wieder völlig souverän wird.

Auch das gilt heute als Populismus: das Streben nach Unabhängigkeit. Das Streben nach Freiheit. Freiheit bedeutet zuerst: sich von etwas frei machen. Die Italiener versuchen es, mit ungewissem Ausgang. Die Briten haben die Geschichte nun in ihrer Hand, ganz klar und deutlich ihre Zukunft selbst zu wählen, wenn sie sich wenigstens der Brüsseler Bevormundung entziehen.

Womöglich wird auch dieser Moment verstreichen; wie jene Sternstunden der Menschheit, die so kostbar sind, und als Feuerflimmern im Angesicht der Unendlichkeit von Milliarden anderen Zeitmomenten ungenutzt verstreichen und im Sternenmeer verglimmen. Vielleicht werden auch wenige Prozent und ein paar Briefwahlstimmen entscheiden. Und wie in Glasgow tauchen dann – von den meisten Medien unbeachtet – Wahlurnen Wochen später auf. Wer Machiavelli liest, rechnet mit allem.

Und dennoch mag der letzte Rest von Idealismus in mir nicht vergehen, dass die Briten, die historisch betrachtet seit dem Hundertjährigen Krieg lieber die Welt, als Europa suchten, endlich den Dominostein antippen könnten, der das selbstverliebte Konglomerat aus klonovsky’schen Bratenriechern, keller’schen Geisterjägern und ihren politischen Vertretern in ihrer Selbstsicherheit über das Ende der Geschichte in jene Panik von Chaos und leidenschaftlicher Unberechenbarkeit stürzt, wie sie nur der Gang der Dinge selbst erzeugen mag.

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