Wir müssen hier aus postmoderner Sicht ganz ehrlich sein. Kein Verlag würde den Herrn der Ringe heute mehr verlegen.
Das hängt bereits mit Tolkiens Prosa zusammen, welche Liebhaber bis heute als jene Klangwellen und Melodien wahrnehmen, auf welcher der mythische Kontinent Mittelerde schwimmt. Tolkien wollte im wahrsten Sinne ein Epos schaffen; Sprache spielte für ihn, den großen Professor der Philologie, der sich mit den alten Zungen Skandinaviens und Britanniens beschäftigte wie kein zweiter, eine umfassende Rolle. In der Tat muss man Tolkiens Universum von der Sprache her verstehen; zuerst schuf Tolkien die Sprache mit ästhetischem Klang, und als er sah, dass sie gut war, schaffte er die Völker und Erdenteile dazu.
Allerdings handelt es sich dabei um eine Arbeit, die heute wohl kein Lektor anerkennen würde. Zeitgenössische Romane zehren vom „Show, not tell“, heißt, Bücher sollen filmisch zeigen was geschieht, statt großväterlich zu erzählen. Und das so präzise, knapp und klar wie möglich. In Zeiten, in denen ein Roman von Thomas Mann mit einseitigen Bandwurmsätzen als unlesbare Überforderung erscheint, kann ein auf Bestseller fixiertes Unternehmen kaum das Wagnis riskieren, ein Sprachprojekt wie Tolkiens Welt als Testballon aufsteigen zu lassen.
Martin dagegen spricht die Sprache der heutigen Medienwelt perfekt. Sie ist einfach, deutlich und auf den Punkt. Seine wahre Meisterschaft zeigt sich in den Dialogen. Mit einzelnen Sätzen spricht er oftmals Motivationen, Absichten und Hintergründe aus, wozu andere Autoren mehrzeilige Gespräche benötigen. Dem Amerikaner kommt dabei seine jahrelange Erfahrungen mit Drehbüchern zupass; in der Tat, das „Lied von Eis und Feuer“ ist gewissermaßen nichts weiter als ein Drehbuch, an das man all das heftete, was man im Film nicht zeigen kann. Gedanken, Hintergrundinformationen, historische Begebenheiten und vieles mehr. Nebencharaktere, die woanders nur als Fußnote vorkommen, können hier Raum fassen.
Tolkien muss schon deswegen verlieren, weil sein Stil nicht mehr in eine Zeit passt, die von sozialen Medien mit 140 Zeichen dominiert wird. In den 30er Jahren war es eben noch kein Fauxpas, sich auch einmal ins Langschweifige zu verirren, oder einfach die Sprache der Sprache Willen zu Wort kommen zu lassen. Die Dialoge wären aus heutiger Sicht eine Katastrophe. „Da kann man kürzen!“ hört man bereits den Regisseur im Hintergrund. Eben das geschah auch reichhaltig mit den Schnörkelpfaden Tolkiens unter der Leitung Peter Jacksons, der das Fantasy-Spektakel in Neuseeland aufnahm.
Wo wir schon bei der Haupthandlung, also dem eigentlichen Plot sind: während man bei Martin in all den Intrigen oftmals gar nicht mehr weiß, was als nächstes kommt, erscheint die Geschichte des Altmeisters sehr einfach gestrickt. Sie ist im besten Sinne eine Saga oder mittelalterliche Âventiure; gleich den Rittern der Tafelrunde müssen die Gefährten zugunsten eines magischen Artefaktes unendliche Mühsale auf sich nehmen. Der spannende Unterschied: der „Eine Ring“ Tolkiens ist das genaue Gegenteil des Heiligen Grals. Er ist das Geschenk des Teufels, das die Geschöpfe Mittelerdes verführt. Dieser Teufel ist Sauron, der in der Tat ein übermenschliches Wesen ist und in vielen Belangen dem christlichen Höllenfürsten ähnelt.* Machtstreben ist nicht der Sinn der Herrschaft wie in Westeros; wer der Macht dient, läuft stattdessen am ehesten Gefahr, dem dunklen Herrn der Ringe zu verfallen.
Wir nähern uns hier einem der wichtigsten Merkmale, die Tolkiens Wunderwelt von Martins Thronintrigen scheidet. Der Philologe Tolkien verarbeitete nicht nur den Stoff der großen europäischen Epen und Sagen, bei denen besonders König Artus und die Nibelungen in den Sinn kommen; er übernahm auch deren psychologische Muster, deren Archetypen und damit zusammenhänge Allegorien. Man wirft Tolkiens Charakteren eben dies vor: die mangelnde Charakterschärfe, die fehlende Originalität, die holzschnittartige Zeichnung.
Es ist dies aber kein schriftstellerischer Mangel, wie heute oftmals moniert, sondern vielmehr absolut logisch in einer Welt, die auf dem Urstoff europäischen Kulturbewusstseins fußt. Tolkien hat gerade durch seine Adaptionen der alten Heldensagen auch ihr Innerstes mitgenommen; heißt, wir treffen auf den Thronfolger, der gegen alle Widerstände sein rechtmäßiges Reich erobern muss; auf den geheimnisvollen, weisen Alten, der die Jungen auf ihren Dienst vorbereitet; auf den treuen Freund; den tyrannischen Herrscher. Das sind Konzepte, wie wir sie bei Dietrich von Bern, Artus, den Nibelungen – aber eben auch in Star Wars wiederfinden. Intuitiv verbinden wir bestimmte Charaktere mit Urbildern, assoziieren sie mit Fähigkeiten und Gesichtern. Deshalb sind diese „simplen“ Figuren oftmals so erfolgreich.
Ein Beispiel? Die Merlinsgestalt, die wir bereits im antiken Epos als alten Nestor kennenlernen, und innerhalb der heutigen Popkultur als den Zauberer Gandalf, den Mittelalter-Detektiv William von Baskerville oder den Jedi-Meister Obi-Wan Kenobi sofort wiedererkennen.
Tolkiens Werk lebt vom Mythos und im Mythos; daher erklärt sich auch die Liebe zu Symbolen. Der Weiße Baum von Gondor ist eben mehr als nur ein Baum; er symbolisiert die Kontinuität des menschlichen Königtums und dessen Abstammung; ähnlich ist der Ring das Zeichen von Macht und Verführung; und ebenso hat jede wichtige Waffe im „Herrn der Ringe“ eine eigene Geschichte und Bedeutung. Bei Martin sind die Symbole der Herrschaft praktisch zu verstehen; Tolkien dagegen erhebt jedes seiner Zeichen zu einem Stück einer größeren Botschaft, eines versteckten Mythos‘ und letztlich zum Ideal des jeweiligen Gegenstandes.
Dabei ist wichtig festzustellen: Tolkien verachtete Allegorien. Vielmehr spielen Prinzipien und Motive eine Rolle, die wir aus der europäischen Kulturgeschichte kennen. Frodo erlebt mit der Last des Rings eine Via Dolorosa, ist aber ebenso wenig als Christus zu verstehen wie Gandalf, der von den Toten zurückkehrt; ebenso hat Aragorn Anleihen eines messianischen Friedenskönigs, der die Welt wieder in Ordnung bringt, ohne dieser König im Wortsinn zu sein. Tolkien selbst gab in einem Brief an Robert Murray zu, dass die Elben-Königin Galadriel in ihrer erhabenen und reinen Art von der Gottesmutter Maria inspiriert sei – was nicht zuletzt an ihrem Beinamen Jungfrau, gekrönt mit schimmerndem Haar, deutlich wird:
I think I know exactly what you mean by the order of Grace; and of course by your references to Our Lady, upon which all my own small perception of beauty both in majesty and simplicity is founded.
Tolkien räumt der Seele hinter den Dingen Platz ein. Der Herr der Ringe ist eben nur eine Geschichte aus Mittelerde, die Facette eines brillierenden Kristalls.
Das Lied von Eis und Feuer dagegen ist der Kristall.
Böse Zungen könnten behaupten, dass das, was Tolkien bei der Charakterbeschreibung vermissen lässt, in lexikonähnlichen Artikeln und Bänden staute. Aber auch der Vorwurf eines charakterlichen, reinen Gut-Böse-Schemas stimmt nicht völlig. Natürlich existieren im Herrn der Ringe nur zwei Seiten: jene, die sich mit dem Bösen, also Sauron verbünden, und jene, die sich diesem übermächtigen Feind entgegenstellen.
Wie sich aber die handelnden Akteure aufstellen, ist ihnen überlassen. Gollum, jenes Geschöpf, das völlig dem Ring verfallen ist, sogar im Rausch der Verführung seiner eigenen Identität als Hobbit verlustig geht, ist dabei das beste Beispiel, dass Tolkien die Frage nach der Gräue austarierte. Die Zerrissenheit von Gollum zwischen einer möglichen Freundschaft zu den beiden Hobbits Frodo und Sam, sowie dessen Sehnsucht nach dem Ring, den Frodo bei sich trägt, lässt für einige Szenen die Frage völlig offen, ob Gollum „gut“ oder „böse“ ist; seine Wahl, die Hobbits zu verraten, lässt ihn ins Lager der Bösen wechseln und nicht etwa, weil er per se darin zu verorten ist.
Ein anderer Fall betrifft das Brüderpaar Boromir und Faramir, die Söhne des Truchsesses von Gondor. Boromir, von seinem Vater geliebt, begleitet die Gefährten auf ihrer Reise, verfällt aber dem Ring und bringt das ganze Unternehmen in Gefahr. Auch hier ist es Schwäche, nicht Bosheit, die Boromir vom rechten Weg abkommen und zuletzt sogar an seinem Fehler sterben lässt. Faramir dagegen, der in den Augen des Vaters nur die zweite Rolle spielt, erweist sich als weitaus würdigerer Erbe seines Hauses, da er dem Ring entsagt – obwohl er die Möglichkeit hat, diesen ebenfalls an sich zu reißen.
Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: Tolkien war überzeugter Katholik. Und gerade diese moralische Sichtweise, die Freiheit der Menschen, sich zu einer Seite zu bekennen, darf genau als typischer katholischer Einfluss gelten wie etwa der Gedanke, dass Mythen keine Lügen sind, sondern Wege, um die Wahrheit zu verdeutlichen** – im Übrigen ein Streitpunkt zwischen ihm und dem Schriftstellerkollegen C. S. Lewis. Im Gegensatz zu Westeros, wo der Zweck die Mittel heiligt, wenn es um die Macht geht, ist in Mittelerde die Frage um Macht und Moral ein äußerst sensibles Thema.
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*Bester Theodred, ich weiß, dass Sauron eigentlich weniger der Teufel, als der beste Diener des Teufels war, und nach dessen Sturz dessen Position übernahm; aber wir wollen dergleichen nicht überstrapazieren.
**Letzteres war auch ein beliebtes Mittel der italienischen Renaissancekunst.