Tolkiens Werk, Martins Beitrag und der machiavellistische Zeitgeist (I)

9. Juni 2016
Kategorie: Europa | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Linkverweis | Machiavelli | Medien | Mittelalter | Philosophisches | Tolkien

Der folgende Text ist eine weiterführende Antwort auf eine Diskussion, die sich auf Theodreds Blog entwickelte.

Wir beginnen mit passender Musik.

Man muss nicht HBO schauen, oder die Bücher aus der Hand von George R. R. Martin lesen, um vom Phänomen „Game of Thrones“ gehört zu haben. Es reicht bereits, auf dem eigenen – eher mittelmäßigen – Email-Anbieter mit Nachrichten darüber torpediert zu werden, was in der neuen Staffel rund um Martins Fantasy-Welt geschieht. Ach was, Email-Anbieter – selbst die einst ehrwürdige FAZ spekuliert, was als nächstes im Kampf um jenen Eisernen Thron geschieht, um den sich die Völker, Familien und Adligen von Westeros streiten.

Martins Version des phantastischen Mittelalters handelt von politischen Ränkespielen, Bastardsöhnen, Drachen – und viel nackter Haut. Viel, viel nackter Haut und ausgelebten sexuellen Phantasien, die das Barbarische und Animalische, kurz: das Triebhafte und Primitive im Menschen ebenso ins Extreme ziehen wie es Neid, Habgier und Mord auf einer anderen Ebene exerzieren. Unter Verwandten wird gestritten, gehasst, gemordet – und sogar der gemeinsame Koitus ausgeübt.

Die Crux in Westeros besteht darin, dass, weil nahezu jeder Charakter seine Schattenseiten hat, ein jeder auch dem völlig Zügellosen und Bösen verfällt, wenn es seinen Zielen dienlich ist. Die Noblen, die Aufrechten, die Ehrenhaften und Treuen sind die ersten, die sterben. Martin schreckt nicht davor zurück, beliebte Charaktere für eine gute Story zu opfern. Er ist dabei nicht minder kalt als seine Protagonisten, die im Kampf um die Macht über Leichen gehen. Ein großer Teil der Faszination von Martins Werk liegt darin, dass es völlig unberechenbar erscheint. Hauptcharaktere sterben plötzlich. Neue Helden, neue Antagonisten treten auf. Die erfolgreichsten Charaktere wechseln im richtigen Moment die Seiten oder ändern ihre Prioritäten – weshalb es weiter unmöglich bleibt, abzusehen, was als nächstes kommt.

An diesem Punkt mag man das Interesse des Löwen für diese Serie verstehen. Als Machiavellist ist diese Geschichte ein Fest. Der Teufel aus Florenz würde sich die Hände reiben, ja, seine Theorien nicht nur bestätigt – sondern sogar Teile seines Werkes plagiiert sehen. So kam es – Achtung, hier wird der Plot verraten! – unter Fans der Sendung zum Entsetzen, weil bei einer Hochzeit einfach mal das Gefolge einer feindlichen Partei ausgerottet wurde, obwohl das Gastrecht als eine der wenigen heiligen sozialen Normen in Martins Welt galt.

Für den Renaissancemenschen kommt die Szene dagegen überhaupt nicht überraschend: ähnliches inszenierte niemand Geringeres als Cesare Borgia im Jahr 1502/1503. Der Fürst hatte in seinen Feldzügen große Gebiete Mittelitaliens unterworfen; ein Wespennest aus dutzenden kleinen Herrschaften, wo jeder Adlige mit dem anderen stritt und man sich folgerichtig gegen Borgia verbündete, um die eigene Unabhängigkeit zu wahren. Unter dem Vorwand der Freundschaft und eines gemeinsamen Festes lud der gefährlichste Mann der Halbinsel die höchsten Herren seines Reiches ein – und ließ sie allesamt in einer Nacht massakrieren. Die Silvesternacht von Senigallia galt gleichzeitig als Meisterstück der Macht, da sich Borgia in wenigen Stunden nicht nur seiner gefährlichsten Feinde entledigte, sondern damit ein lange politisch zerklüftetes Gebiet mit starker Hand einte. Machiavelli bezeichnete den Massenmord sogar als größte Leistung des Herzogs von Valentinois – wie man Cesare Borgia ehrfürchtig nannte – und schrieb über diese Tat sogar ein eigenes Traktat, um auch noch zukünftige Herrscher darüber zu belehren, wie man sich der Herrschaft in einem unsicheren Gebiet versicherte.

Martins Fantasy ist daher im Grunde keine klassische Fantasy, sondern findet ihre Vorbilder eher in den Fehden der Italienischen Renaissance und im Englischen Rosenkrieg. Letzteres wird schon am Klang der Familiennamen deutlich; historisch kämpften in England die Dynastien York und Lancaster um die Macht, in Westeros sind es die Häuser Stark und Lannister. Zudem existiert eine große Mauer im Norden des Kontinents, die vor (noch?) barbarischeren Völkern schützt. Der Hadrianswall lässt grüßen – wenn auch historisch zeitversetzt.

Hier setzt dann auch der „Mythos“ ein: denn heute leben vor allem die Bilder des ruchlosen Cesare Borgia, der rumhurenden Lucrezia und – auf englischer Seite – des tyrannischen Richards III. weiter. Das Spätmittelalter und die Renaissance gelten bereits seit Cervantes‘ Don Quixote als Niedergang des edlen Ritters, der im Feuerhagel der Musketen sein Leben verliert; eine unehrenhafte Art des Todes, unehrenhaft wie die zwielichtigen Herrscher, die eben ganz auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Machiavelli hat diesem Zeitalter im Nachhinein nicht zuletzt auch durch sein Werk den Stempel aufgeprägt.

Es ist weniger wahrscheinlich, dass ein amerikanischer Fantasy-Autor vor der Niederschrift seiner Bücher breit angelegte historische Studien tätigte. Aber Bilder, Mythen und nicht zuletzt die Shakespeare’schen Dramen leben weiter. Mögen es nur Fragmente sein, jeder Autor weiß, dass gute Ideen nicht verloren gehen, anders aufgegriffen werden, womöglich auf originelle Art und Weise; wie auch immer, die Welt Martins ist ein machiavellistischer Renaissancealptraum, in der Seite für Seite das Prinzip des Principe bestätigt wird. Ob beabsichtigt oder nicht.

Und nebenbei: Machiavelli selbst war auch ein erfolgreicher Dramatiker, in dessen bekanntestem Werk – Mandragola – es beinahe ausschließlich um die Kunst des Betrugs und der Verführung einer Frau geht. Schon bei Machiavelli gilt der Beischlaf nicht nur als Belohnung für die angewandte List, sondern auch als Ausdruck der eigenen Machtposition.

Die nächsten Verwandten von „Game of Thrones“ sind daher auch nicht so sehr bei Tolkiens Hobbits, Elben und Orks zu suchen, sondern vielmehr in den Serienkonzepten von Sendungen wie den „Tudors“ oder den „Borgias“. Auch dort überwiegt Sex und Machiavellismus gegenüber dem eigentlichen Genreinhalt. Glaubt denn jemand tatsächlich, die Zuschauer der Borgias interessierten sich dafür, was um 1500 so in Italien passierte? Manzoni, der Urvater des italienischen Historischen Romans, der ein ganzes Kapitel nur der in Mailand wütenden Pest widmete, hat mit diesen Historienserien ebenso wenig gemein wie der britische Gentleman Tolkien mit der Sendung auf HBO.

Womit wir beim großen Thema wären.

Der Kult um Martins Bücher – und vor allem die darauf basierende TV-Serie – fordert den eigentlichen Herrn der Fantasy heraus. J. R. R. Tolkien, der dieses Genre in seiner heutigen Art erst begründet hat, erscheint als völliges Gegenbild zu dieser „modernen“ Variante eines fiktiv erdachten Universums. Denn obwohl sich alle Fantasy-Autoren an Tolkiens Basis bedienen, es also Rösser, Sagenwesen, mittelalterliches Schlachtgetümmel, Burgen und Höfe gibt, scheint der innere Kern nicht kontrastreicher ausfallen zu können. Der Schöpfer des „Herrn der Ringe“, des „Hobbits“ und des Silmarillons erfährt heute besonders von den Martin-Anhängern weitreichende Kritik.

Teilen

«
»