Tolkiens Werk, Martins Beitrag und der machiavellistische Zeitgeist (III)

11. Juni 2016
Kategorie: Europa | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Machiavelli | Medien | Mittelalter | Musik | Tolkien

Und zum Abschluss ein letzter Wechsel.

The Lord of the Rings is of course a fundamentally religious and Catholic work; unconsciously so at first, but consciously in the revision.

… schreibt Tolkien in seinem Brief an Murray direkt nach der oben erwähnten Marienpassage. Das erscheint für viele, die vielleicht das Fantasy-Genre, den Herrn der Ringe oder den Hobbit kennen, aber nicht die Person Tolkiens, auf den ersten Blick verblüffend; ein Kritikpunkt an der Fantasy war ja seit ihrer Schaffung das Dämonische und Okkulte, was auch von christlichen Glaubensvertretern oder – wie jüngst – Lehrbeauftragten immer wieder unterstrichen wurde. Wer aber den Herrn der Ringe genauer liest, merkt, dass ihm eine zutiefst christlich-katholische Moral innewohnt.

Die schärfste Trennlinie zwischen Westeros und Mittelerde erfolgt in der dahinter stehenden Weltanschauung. Westeros ist auf den eigenen Vorteil bedacht: ob bezüglich der eigenen Macht oder der sexuellen Vergnügungen. Das hat oft zu Aussagen verleitet, Martins Fantasy-Entwurf sei „authentischer“ oder „realistischer“; das ist er mitnichten. Er ist nur materialistischer. Deswegen ist verständlich, weshalb der Zeitgeist mit „Game of Thrones“ weitaus mehr anfangen kann. Die heute als egoistisch wahrgenommene Welt findet sich dort viel stärker wieder. Sie ist – im theologisch-philosophischen Sinne – in der Tat „die Welt“, also zutiefst weltlich, ohne Hoffnung darauf, dass Ideale sich tatsächlich erfüllen können oder Tugenden zwangsläufig belohnt werden.
Wo es kein immanentes Böses, keinen Teufel wie Sauron gibt, existiert auch kein Gott; außer der menschengemachte von Macht und (nicht nur sexuellem) Konsum.

Mittelerde indes ist ein zutiefst spiritueller Ort. Auf den ersten Blick erscheint dies absurd, denn der Katholik Tolkien geht niemals auf eine Religion, Riten oder Opfer in seiner eigenen Welt ein, die im Grunde stark von der nordischen Saga inspiriert ist. Die Abwesenheit der organisierten Religion spielt jedoch keine Rolle, wenn man sich vor Augen führt, dass Spiritualität in Tolkiens Werk durch die Schöpfung und ihre Charaktere lebt.

Gandalf ist im besten Sinne ein (Schutz)Engel, ein überirdischer Begleiter mit einer Mission. Immer wieder unterstreicht er, dass auch kleinste Taten eine Wirkung auf das Geschehen haben; dass es nicht darauf ankommt, die ganze Welt aus den Angeln zu heben, dass es nicht die Großen und Mächtigen sind, sondern die oftmals als gering erachteten Menschen, welche die Welt in den Fugen halten. Man mag an das Kind im Stall denken, dass Gott eben so groß ist, dass er sich ganz klein machen kann. Und dass die kleinwüchsigen Hobbits, die so lächerlich und mickrig im Gegensatz zu den scheußlichen Orks oder den schönen Elben gelten, mit ihrer Mission, nämlich der Zerstörung des Rings und seiner Macht, eben diesen Menschenschlag repräsentieren. Sie sind im besten Sinne Märtyrer: Personen, die für ihre Überzeugungen einstehen und bereit sind, mit ihrem Leben zu bezahlen.

Wo wir schon bei Orks und Elben waren: hier zeigt sich ein weiterer Baustein von Tolkiens Philosophie. Das Böse als solches ist zwar immanent, aber es existiert nicht aus sich selbst heraus. Die Orks sind eine Korrumpierung der Elben; Gollum ist ein korrumpierter Hobbit; selbst der Erzbösewicht Sauron war ein Maiar, jene überirdische Kategorie, der auch Gandalf angehört – und damit ein gefallener Engel. Die Schöpfung Tolkiens ist im Grunde gut. Wer sich aber gegen den Plan des Schöpfers entscheidet, tut dies aus eigenem Willen und bekennt sich damit zum Bösen. In dieser Hinsicht ist der Herr der Ringe auch kein dualistischer Kampf, da die Bösen physisch wie psychisch nur verirrte Formen sind.
Dass die korrumpierten Lebewesen im Übrigen das von den Elben gebackene Brot Lembas – das in der Elbensprache Quenya übersetzt „Brot des Lebens“ heißt – verabscheuen, lässt übrigens noch an ein ganz anderes Brot denken, welches die Dämonen der Welt nicht antasten mögen.

Ich betone es nochmals, um Irrtümer zu vermeiden: Sauron ist nicht der Teufel, das Elbenbrot ist nicht die Kommunion. Aber die Punkte zeigen die spirituelle Dimension des Buches auf, die erst bei einem zweiten Durchblick offenbar wird – und die Martin komplett fehlt. So schlimm auch die Herausforderungen für die Protagonisten sein mögen, innerlich vibriert die christliche Hoffnung auf Erlösung – ohne, dass diese vollständig ist.

Wer denkt, dass Tolkiens Buch damit endet, dass das Gute gegen das Böse vollständig triumphiert, irrt. Mittelerde ist bereits ein untergehender Kontinent. Die Elben wandern aus, die großen Zeiten der Zwerge sind vorüber, die meisten Menschenstädte sind Ruinen. Die wenigen Zeichen der Zivilisation sind Reste dessen, was einst war. Der Herr der Ringe ist kein Disney-Märchen. Das Gute wird immer wieder vom Bösen herausgefordert; und Tolkien, ganz Historiker, wusste, dass es auf Erden kein Ende der Geschichte geben würde, dass Erlösung immer transzendent ist. Das Paradies, in das Gandalf und Frodo am Ende einkehren, indem sie „nach Westen fahren“, liegt außerhalb Mittelerdes – unerreichbar für die meisten Wesen.

Wer also Martin und Tolkien vergleicht, gar Martin diesen „Kampf“ gewinnen lässt, übersieht, dass, nur weil in zwei Geschichten Ritter, Drachen und Magie auftauchen, diese nicht unbedingt vergleichbar sein müssen. Tolkien schöpft aus der alteuropäischen Literatur, aus dem Mythos, aus den Tiefen der linguistischen Philosophie, spirituellen Überzeugungen und zuletzt persönlichen Lebenserfahrungen. Er steht der deutschen Romantik, Homers Epen und den Canterbury Tales näher als dem, was heute landläufig als „Fantasy“ bezeichnet wird. Zeitlose Prinzipien gelten hier mehr als der bloße Effekt.
Martin dagegen ist bereit, für einen guten Cliffhanger jederzeit einen Hauptcharakter umzubringen; machiavellistisch-berechnend, wie es seine eigenen Erfindungen sind. Die simple Kosten-Nutzen-Rechnung unserer Zeit, die allem Heiligen, allem Spirituellen entsagt zugunsten der Welt – wird hier greifbar. Es existiert keine Hoffnung auf Belohnung; Hoffnung, das ist – wie Thukydides, der Vordenker Machiavellis, feststellte – nur ein bloßes Trostmittel.

Letztendlich sind beide Autoren mit ihren Werken Facetten des Seins. Auf der einen die Suche und Vermittlung von Wahrheit durch Mythen; auf der anderen die knallharte, brutale Welt. Tolkien spielt mit der Faszination des Schönen und Guten; bei Martin ist es die Faszination des Unmoralischen und Triebhaften. Überspitzt mag man zusammenfassen: Tolkien spricht das Beste, Martin das Schrecklichste in uns an.

Den Kritikern Martins werfe ich entgegen: ein Autor, der es schafft, Geschichten mit mehreren hundert Seiten (in Angelsaxonien sind meistens zwei Bände zu einem zusammengefasst) in einer neuen Zeit des Analphabetismus zu verkaufen und einen Plot über diese Längen weiterhin spannend und unterhaltsam zu schreiben, ohne seine Leser dabei zu verlieren, und immer wieder zu überraschen – der macht etwas richtig, der versteht sein Handwerk. Man mag den Inhalt nicht mögen, ihn vielleicht als trivial, womöglich als Tolkien-Travestie empfinden. Das ändert nichts daran, dass es einiges an Kreativität, Fleiß und Talent abnötigt, dergleichen in heutigen Zeiten noch zu bewerkstelligen.

Denen jedoch, die Tolkien kritisieren, sei gesagt, dass alle – ob Martin, Pratchett oder wer auch immer in diesem Genre – auf einem Berg steht, den Tolkien in unendlicher Fleißarbeit mit Kieselsteinen aufgeschichtet hat. Die Schöpfungshöhe fällt damit eher schon ins Genialische, als nur ins Kreative. Und: Tolkien ist nicht naiv, sondern im Gegenteil weise. Er hat eine Botschaft. Und er ist ein Romantiker gewesen, in einer Zeit, in welcher der Fortschritt eben jene ländlichen Gebiete Englands verwüstete, wo er seine Kindheit verbrachte; ähnlich, wie auch seine Geschichten das Alte und Ewige bewahren, es eben keinen Fortschritt gibt, sondern das Bewahrenswerte, Heilige und Gute.

Das ist ein Weg, den Martin erst noch gehen muss. Tolkiens Welt existiert und fasziniert bald schon hundert Jahre. Ob Martin ebenso im Gedächtnis bleibt, oder sich das Lied von Eis und Feuer als Romanreihe nur als Ereignis entpuppt, das erfolgreich war, weil es den Zeitgeist bediente; das muss die Geschichte selbst zeigen. Heute, da „Game of Thrones“ alles bietet, wonach die westliche Gesellschaft dürstet, und ein Lebensgefühl analysiert, in dem nichts sicher, nichts verlässlich, alles zum eigenen Nutzen herhalten muss… erscheint es als offensichtlich, dass diese „neue Art der Fantasy“ auch einem breiten Publikum gefällt.

Erfahrungsgemäß haben aber meistens nur die Geschichten ewigen Wert, die auch ein Stück weit ewige Botschaften enthalten.

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