Der Veganer

9. April 2016
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Esskultur | Europa | Freiheit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Non enim sciunt quid faciunt | Persönliches | Philosophisches

Es war an einem Märztag, irgendwann zwischen Nieselregen und zahmen Mittagssonnenlicht, dass ich auf einer Bank der Bonner Hofgartenwiese saß, und ein nur wenige Minuten zuvor gekauftes Süßmandelrosinenbrot verspeiste. Den Schirm hatte ich noch in der anderen Hand, da das Wetter sich als äußerst wechselhaft erwies, was insbesondere zwei junge Frauen auf der anderen Seite des Parks immer wieder erfahren durften, wenn plötzlich für Sekunden der Eisregen neuerlich ausbrach. Nun könnte der Leser an dieser Stelle mein selten ungentlemanhaftes Verhalten rügen, was so ganz und gar nicht zum Typus des hier schreibenden Löwen passen wollte; allein, bei Studentinnen bin ich mittlerweile der Ansicht, dass, wer auf Gleichberechtigung pocht, auch einen gleichberechtigten Verstand besitzt, und ein solcher bei Regenwetter durchaus einen irgendwie gearteten Regenschutz mitnehmen kann.
Doch dergleichen soll hier nicht das Thema sein.

Ich vertrieb mir die Zeit bis zum Mittagessen in dieser halben Stunde, und nach einigen Momenten der feinen Schauer sollte sich erneut die Sonne zeigen. Unbekümmert nahm ich einen weiteren Bissen von der Spezialität aus einer französischen Boulangerie, und klappte das Regenschutzgerät in einer einfachen, stilvollen Bewegung ein, die selbst Italo nicht besser hätte nachahmen können. Überhaupt fühlte sich an diesem Tag vieles nach Belle Époque an, denn ein Mandelbrotessen vor dem Mittagsmahl in einem öffentlichen Park in gut sortierter Kleidung, ohne Jogger oder Taschentelefonbesessene in Reichweite, hat im Nachhinein betrachtet doch weitaus mehr von 19. Jahrhundert, als im damaligen Moment wahrgenommen.

Wie auch immer. Ich hatte den Imbiss gerade beendet, und sah mich nur mit dem größtenteils leeren Park, dem Sonnenschein und der Fassade des Universitätsgebäudes konfrontiert, als ein leises, aber sich näherndes Schlurfen an Bedeutung, fast mag man meinen: an Lautstärke gewann. Da war keine Stärke, keine Penetranz, sondern nur die Präsenz eben jenes Geräusches, das, einfach, weil sein Besitzer existierte, grundsätzlich hatte lauter werden müssen. Da war weder die Eleganz von den Tritten hochhackiger Schuhe italienischer junger Frauen, noch die Standhaftigkeit des alphamännlichen Rammens; keine Sportlichkeit der Turnschuhe von Fitnessfanatikern; keine Lässigkeit vorbeiziehender Studenten. Es war ein so unwichtiges Schlurfen, dass es in seinem Sein schief klang, so, als hallte der Ton nur als Platzhalter, weil er sonst keinerlei Identität gewonnen hatte. Man mag sich an dieser Stelle ausmalen, dass ich des Öfteren irgendwo sitze, und Menschen weniger beobachte, als vielmehr ihren Schrittlaut seziere, um bereits im Voraus zu mutmaßen, welches Geschlecht und welchen Charakter der Besitzer hat. Freilich sind meine Tipps ungenau, und ich bin weit davon entfernt, damit richtig zu liegen, aber das kleine Spiel sei erlaubt – dass ich aber bisher überhaupt nichts festmachen, nichts rätseln konnte, das kam bei mir selten vor.

Da das Schlurfen bald seinen Zenit erreicht hatte, war es ganz und gar unmöglich, nicht wahrzunehmen, wie sich die geisterhafte Gestalt an mir vorbeischleppte. Aus dunkler Kleidung hoben sich das totenhaft-weißliche Gesicht und die Arme hervor, die in diesem Kontrast noch leichenblasser wirkten als sowieso schon. Nicht nur der Schlurfton hörte sich schief an; so verhielt es sich bei der ganzen Haltung, die nach links abdriftete. Obwohl die Szene höchstens fünf Sekunden dauerte, grub sich der Eindruck bei mir so tief ein, wie es die Erscheinung eines Gespenstes nur schaffen konnte: denn die Gestalt war nicht etwa ein gehbehinderter, älterer Herr, sondern ein junger Mann Anfang 20. Auf seinem Rücken hing ein jeansblauer Rucksack mit einem Fuchs schwedischer Marke und ein eingewobener Schriftzug Vegan. Wie der gesamten Erscheinung wohnte dem Rucksack eine zutiefst eigene Form dessen inne, für was die deutsche Sprache einst den Begriff „versifft“ geformt hatte.

Geradezu erstaunlich symbolisch mutete die Szene an, als das Männlein einige Meter entfernt nach einer Trinkpackung im Matsch griff, und diese verantwortungsvoll in einem Papierkorb nahebei entwertete. Danach verschwanden er und das Schlurfen wieder aus Zeit und Bild.

Als jemand, der allein vom Sprachstil derzeit allerlei mit der Epoche des Symbolismus, Ästhetizismus und der Dekadenz spielt – diese Gedächtnisstütze hier ist keine Ausnahme – wirkte das Geschehene höchst denkwürdig. Nicht nur, weil ich mich in einer fleischgewordenen Allegorie der Gegensätze glaubte, mit mir und dem jungen Unbekannten als Antipoden. Nun bin ich in physischer Hinsicht mit Sicherheit nicht das attraktivste Gegenbild; dafür fehlt mir freilich die Muskelmasse. Andererseits ist es ab einer gewissen Körpergröße auch nahezu unumgänglich, dass die Statur eher dünner wird. Auch will ich sicherlich nicht von Hautproblemen beginnen – allein, wenn ich in den Spiegel schaue, kann ich doch sehr wohl zwischen gesundem Teint und kränklichen unterscheiden. Von der geistigen Gegensätzlichkeit werde ich dagegen kaum anfangen müssen.

Ich möchte den Menschen mit Sicherheit nicht verurteilen; allein der allegorische Akt als solcher fasziniert mich zu sehr, als darauf nicht eingehen zu können. Ebenso, wie es mir bei der Meditation von Hayez mit Sicherheit nicht um die entblößte Brust der Italia geht, sondern um den Urgrund dessen, was das Bild aussagt. Denn in einer Zeit der Relativierung glaubte ich den neuen Menschen gesehen zu haben, wie ihn die Ideologie ab jetzt formte. Seinem Gang und seiner Körperverfassung, auch der unauffälligen Kleidung haftete nichts Männliches an; geschlechtsneutral war dieses Wesen, sodass es alle unter den prophetisch angekündigten 60 Geschlechtern annehmen konnte. Gebeugt der Gang, ohne Stolz und ohne Identität, aber eben nicht gebeugt in Nachdenklichkeit sondern in völliger Weltabgewandtheit ohne sich mit der Welt zu beschäftigen; darum bemüht, die Erde und Natur zu erhalten, aber ohne zu begreifen, dass die Kränklichkeit den eigenen Körper zeichnete und damit ganz und gar gegen die eigene Natur handelte; bereit dazu, sich altruistisch herabzubeugen und Müll zu entwerten, ohne ein Bewusstsein dafür, dass das Eigene völlig vernachlässigt erschien.

Selbstaufgabe fängt eben nicht bei Völkern oder Idealen an; sie hört dortselbst auf, nachdem das Individuum bereits entkernt wurde oder sich freiwillig entkernt hat.

Mich beschäftigte diese Szene auch deswegen so sehr, da das brennende Feuer der Jugend, besonders jene der heterosexuellen, weißen, jungen Männer in ihren Zwanzigern die europäische Staatenwelt immer wieder umgestürzt und erneuert hatte. Es war stets das Verlangen nach dem, was man nicht hatte; ein Begehren danach, das Bestehende zu ändern und zu nehmen, was einem zustand – oder von dem man glaubte, dass es einem zustand. Das war jene Euphorie, jenes Sein und jene Passion der Generationen von 1813, von 1848 und auch jene des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihr Ende in den sozialistischen Ideologien fand; selbst die 1968er und 1989er fügen sich in dieses Schema hinein. Hier aber sah ich keinerlei Verlangen, keinerlei Begehren, sondern reine Zurückgezogenheit auf sich selbst, und höchstens eine Karriere als zukünftiger Ernährungstaliban – sollte es denn die Physis erlauben.

Ich erhob mich von der Bank, und beschloss, an diesem Tag ein Steak zu essen.

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