Es wäre mit Sicherheit eine äußerst ironische Angelegenheit, würde ich weiterhin über schottische, kurdische, katalanische, venetische und andere Regionalismen in diesem Diarium philosophieren, aber nicht das thematisieren, was derzeit vor unserer eigenen Haustüre passiert. Ein Artikel von Don Alphonso ist Anlass zu einigen Gedanken; der Don ist einer der wenigen noch lesenswerten Persönlichkeiten der FAZ, wenn ich auch oftmals seine Meinung nicht teilen mag. Dafür ist er ungeheuer ehrlich, was ich ihm in dieser Zeit der offen zur Schau getragenen Falschheit hoch anrechne.
Nun ist in Deutschland schon lange bekannt, dass der Bayer etwas anders tickt; dies wird nördlich des Mains nicht nur persifliert, sondern teils auch vehement angegriffen. Persönlich habe ich mit der bayerischen Eigenheit nie ein Problem gehabt, im Gegenteil: der Bayer verhält sich in Deutschland so, wie es alle Einwohner der italienischen Regionen tun. Der Unterschied ist eher, dass man in Restdeutschland die regionale Identität zurückgedrängt und allein in Bayern sich diese ganz normal erhalten hat. Der Bayer ist regionalistisch betrachtet die Norm, und die übrigen Deutschen eher die Ausnahme.
Es existieren jedoch einige spezifische Punkte, die genannt werden sollten, worin sich der Bayer bzw. Bayern in vielerlei Hinsicht von den übrigen Regionen und regionalistischen Strömungen unterscheidet, und weshalb Bayern – trotz aller Spannungen – immer ein integraler Bestandteil Deutschlands blieb und bisher keine offenen sezessionistischen Bestrebungen an den Tag legte.
Im Gegensatz zu Frankreich, Italien, Spanien und anderen ging das Königreich Bayern 1871 nicht in einem Nationalstaat auf. Bismarcks „vergrößertes Preußen“ war kein Einheitsstaat, er war vorbildlich und föderal gegliedert. Das Königreich Bayern blieb eine Entität im Bundesstaat. Anders als viele andere, „untergegangenen Reiche“ behielt Bayern wie andere Mitglieder des Deutschen Kaiserreichs eine ganze Reihe von Privilegien und Souveränitäten. Die königliche Eisenbahn und Post, sowie eine Bandbreite eigener Steuern blieben bayrisches Vorrecht.* Am wichtigsten aber: es existierte zwar ein Deutsches Heer im Kaiserreich, aber eben keine Reichswehr; neben Sachsen, Baden und Württemberg behielt auch Bayern eine Armee unter eigenem Kommando. Zudem unterhielt das Königreich weiterhin seine außenpolitische Vertretungen und ein diplomatisches Korps.
Kurz: von 1871 bis 1919 besaß Bayern die Eigenarten eines teilsouveränen Staates. In vielen Bezugspunkten erinnerte es in seiner Stellung an ein Mitglied des Reichsverbandes von vor 1806. Tatsächlich ist Bayern erst in der Weimarer Republik rechtlich vollkommen in das Deutsche Reich hineingewachsen.
Die Erfolgsgeschichte des Deutschen Reiches ist daher auch eine Erfolgsgeschichte des Regionalismus. Indem man den Gliedstaaten größere Freiräume überließ, sicherte dies einen vaterländischen Zusammenhalt, der noch Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wäre. Nicht Zentralismus, sondern Subsidiarität sicherte das Nationalgefühl in jener Zeit. Die Bayern blieben Bayern, aber eben weil Berlin dies so zusicherte, fraternisierte man sich mit den Preußen, trotz der mentalen Differenzen. Bis 1866 waren die Bayern natürliche Verbündete der Österreicher gewesen. Heißt: Freundschaft entsteht nie durch Zwang, sondern durch Freiheit.
Eine Lektion im Übrigen, die man in Brüssel auch nach einem Vierteljahrhundert nicht verstanden hat. Aber zu diesem Thema habe ich ja bereits ausführlich Stellung bezogen.
Halten wir fest: die bayerische Integration war eine friedliche und vorteilhafte für alle Seiten. Eben dadurch wurde die Einheit so gut wie niemals ernsthaft in Frage gestellt. Auch, wenn die Nordländer sich immer sehr empfindlich gegenüber der bayerischen Besonderheit zeigten. Dennoch besteht hier eben ein Unterschied: mit der Einigung Italiens ging für Venetien ein Abstieg einher; die Flamen litten unter der wallonischen Sprachhegemonie und sahen sich in ihrer kulturellen Identität bedroht; die Katalanen erlebten Ähnliches in der Franco-Diktatur.
Von den Kurden, die derzeit in einem blutigen Gemetzel an zwei Fronten verwickelt sind, will ich gar nicht erst anfangen.
Diese negativen Erfahrungen machten die Bayern nie. Deutschland war und blieb ein föderaler Staat, der die Diversität schätzte. Die einzige Periode des deutschen Einheitsstaates zwischen 1933-1945 war nicht nur kurz, sondern selbst in dieser Periode fiel den Alliierten auf, dass die Deutschen teilweise grundverschieden nach Region waren. Es ist erstaunlich, dass die Vorstreiter der „Buntheit“ und des „Multikulti“ immer Araber und Afrikaner brauchen, aber nicht fähig sind, die bereits bestehende Vielfalt in Europa selbst wahrzunehmen.**
Auch in Italien wird Bayern bereits als eine sehr eigene Entität wahrgenommen, zumindest in meiner Ecke. Das hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass man über Verona direkten Kontakt dorthin hat, und die Bayern sehr gerne am Gardasee einen Wochenendurlaub einlegen. Man nimmt durchaus wahr, dass diese Menschen anders sind als die übrigen Deutschen – und nicht zuletzt auch näher am eigenen Lebensstil. Und nicht wenige Italiener schätzen die bayerischen Spezialitäten (was man zuerst gar nicht glauben würde). Insofern war auch im Ausland immer klar: wenn es mal irgendeine Region in Deutschland gibt, die sich unabhängig machen könnte, dann Bayern.
Sehen wir uns die wirtschaftlichen und politischen Fakten an, würde ich sogar so weit gehen, dass es keine andere Region in Europa gibt, die für eine Unabhängigkeit besser geeignet wäre, als diese. Von der Einwohnerzahl und der Wirtschaftskraft läge ein unabhängiges Bayern noch vor Österreich. Warum die Bayern nicht das schaffen sollten, was die Österreicher geschafft haben, müsste mir erst noch jemand erklären. Ob die Bayern jetzt per Schengen ihre Waren über Österreich, Tschechien oder Hessen transportieren, ist doch geschenkt. Der EU-Raum bleibt ja. Noch, zumindest.
Doch nun scheint sich auch in Bayern etwas zu ändern, übrigens schneller, als ich es selbst für möglich hielt. Die Anlage hatten sie rein historisch schon immer; seit ein paar Jahrzehnten auch wirtschaftlich. Solange die Bayern sich nicht ausgebeutet fühlen oder fühlten – so wie die Flamen, Norditaliener, Schotten, Katalanen und andere – halten oder hielten sie die Füße still. Aber kein Staat der Welt kann eine starke Region auf Dauer in die Verantwortung nehmen, ohne etwas zurückzugeben – und anschließend diese auch noch entehren. Jetzt mag man sich über das Wort „Ehre“ in die Haare bekommen, aber bis heute spielt es eben eine große Rolle, wie eine Region oder ihr Repräsentant sich behandelt fühlt.
Es ist relativ einfach zusammengefasst: wenn eine Region, die schon bis dato viel für den Gesamtstaat geleistet hat, auch noch unter der Politik des Gesamtstaates leidet, ist Sezession ein logischer Gedanke. Welchen Sinn hat denn der Verbleib in einem Bund, wenn man nicht profitiert? Und wer schreibt vor, dass man dann dort bleiben sollte? Nationen mögen Schicksalsgemeinschaften sein, aber auch ein Schicksal kann man nicht bis ans Ende reizen, wenn die Taten andere Worte sprechen.
Persönlich halte ich Seehofer für einen Maulhelden. Ich wiederhole es immer wieder im Gespräch, ich nerve Leute schon damit. Große Töne, keine Taten. Aber das Bewusstsein eines Volkes drängt sich bis zuletzt immer wieder bis in die höchsten Parteispitzen durch. Und der Bayer ist derzeit alles andere als überzeugt von dem, was in Berlin getan wird. Er ist modern und aufgeschlossen, aber er hat konservative Werte. Und je mehr vom Norden eine Lawine des Multi-Kulti, des Öko- und Genderglaubens verordnet wird, desto mehr wird man sich am Alpenrand fragen, wie man diese aufhalten kann. Denn am Ende ist es Bayern, das im Länderfinanzausgleich so gut wie alle dieser Experimente finanzieren darf. Ich vermute zudem, dass bis heute der Ausstieg aus der Atomkraft dort nicht vollzogen worden wäre.
Und wenn es eben nicht das Volksbewusstsein ist, dann werden die Wahlergebnisse folgen. Die CSU wird alles dafür tun, dass sie als einzige regionalistische Partei auf Bundesebene ihr Stammland um jeden Preis unangefochten hält. Seehofer hat den großen Vorteil, dass er ein eigenes Land und eine eigene Partei hat. Man kann ihn nicht absägen, so, wie es Merkel immer mit unliebsamen Konkurrenten getan hat. Und womöglich wird man in der CSU bald mal genauer erörtern, ob es nicht besser ist, König in seinem eigenen Land, als Herzog in einem großen Reich zu sein.
Denn Venedig, Flandern, Schottland und Bayern teilen noch eine Gemeinsamkeit: sie alle tragen einen Löwen im Wappen. Und Löwen neigen dazu, dass man sie – einmal entfesselt – nur noch schwer im Zaum halten kann.
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*Richtig geraten: dazu gehörte vor allem die Bier- und Brandweinsteuer!
**Bayern selbst ist ja schon deswegen ein delikater Fall, weil es sich dabei um keine homogene Region handelt: der Augsburger Schwabe und Nürnberger Franke kann da ein Lied von singen. Diese Details allerdings weiter auszurollen würde den Beitrag sprengen.