Sunniten und Schiiten: Ein Dreißigjähriger Krieg? (I)

5. Januar 2016
Kategorie: FAZ-Kritik | Historisches | Medien | Philosophisches | Regionalismus | Sunniten und Schiiten: Ein Dreißigjähriger Krieg?

Seit einigen Monaten lese ich immer wieder von diesem Vergleich, dessen sich vor allem die Quantitätsmedien bedienen. Ironischerweise sind das dieselben die zumeist ein Abendland verneinen; hier hingegen scheint man absolute Sicherheit zu haben. Statt aber direkt ein Fazit zu ziehen, reizt es mich, dieses Beispiel durchzuexerzieren – denn als Frühneuzeitler wage ich mir da doch ein kleines Urteil zu erlauben.

Crashkurs: was war der Dreißigjährige Krieg? Im Grunde ein Krieg um die Hegemonialmacht in Europa, zudem ein Machtkampf im Reich, eine Auseinandersetzung zwischen Kaiser und anderen Reichsständen und auch ein Krieg zwischen Konfessionen innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen. An letzterer Stelle wird es spannend, denn im Gedächtnis ist vor allem der konfessionelle Gegensatz im Kopf geblieben, weshalb sich zahlreiche Journalisten eines Vergleichs bedienen. Nach dem Motto: ach, wieder diese Konfessionen und ihre Religionskriege!

Wenn man sich jedoch die gesamte Aufzählung ansieht, ist das ein sehr simplifizierter Schluss. Der Fenstersturz in Prag resultierte zuerst aus machtpolitischen Fragen. Die kaiserlichen Stellvertreter in Prag wurden nicht aus dem Fenster geworfen, weil sie Katholiken waren – sondern weil sie kaiserliche Stellvertreter waren. Es handelte sich um einen böhmischen Aufstand gegen die kaiserliche Gewalt; ähnlich wie bei den Hussitenkriegen vermischten sich hier religiöse und machtpolitische Interessen, aber letztere waren eindeutig entscheidender.

Kurz: den Böhmen missfiel weniger der Umstand, dass der Kaiser katholisch war, als vielmehr die Tatsache, dass der Kaiser den Böhmen Autonomien – darunter auch die Religionsfreiheit – zugesprochen hatte, und diese einkassieren wollte. Ganz ähnlich war auch der Aufstand der Niederländer ein halbes Jahrhundert zuvor eben auch ein Religionskrieg, es ging aber im Grunde um weit mehr: wir würden es heute als nationale Selbstbestimmung oder Selbstbestimmungsrecht der Völker bezeichnen (der Regionalist in mir fügte freilich noch anderes hinzu). Die freie Ausübung ist ein wichtiger Teil davon; aber eben nur ein Teil.

Es sei daher auch darauf verwiesen, dass es vor diesem fulminanten Start 1618 zuvor zwar Spannungen gegeben, aber man bereits 1555 in Augsburg einen modus vivendi gefunden hatte. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts war die lutheranische Frage erledigt: cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion). Es war also nicht so, dass Protestanten und Katholiken von jeher feindlich gesinnt waren, sondern es hatte ein friedliches Übereinkommen gegeben, an welches sich zumindest die „55er-Generation“ gehalten hatte. Die Fürsten kannten sich, man verstand sich. Erst die Nachfolgergeneration entwickelte jenen Eifer, der den Ereignissen von 1618 den Weg bereitete.

Einen Dualismus auf Leben und Tod hatte es aber zwischen Katholiken und Protestanten schon deswegen nicht gegeben, weil das Reich zwar ein Flickenteppich war, aber weiterhin ein Teppich. Die ältere Forschung hat das Reich gerne schwächer gemacht als es war, und viele sehen die damaligen Territorien als souverän; das waren sie mitnichten. Der Dreißigjährige Krieg ist auch eine Epoche, in der das Wort „Vaterland“ vermehrt auftaucht. Die „teutsche Nation“ ist eben – im Gegensatz zu heute? – durchaus lebendig. In Flugblättern und Briefen kann man immer wieder nachlesen, dass man den Kampf für die Religion gegen das Reich als Landesverrat sieht. Das Reich ist ein Wert an sich; und der Kaiser wird selbst von Protestanten nicht infrage gestellt. Gerade der Kurfürst von Sachsen, der eigentliche Anführer des protestantischen Reiches, durfte sich vor und nach 1618 immer wieder dem Kaiser unterordnen, weil man prinzipiell die Autorität des Kaisers nicht anzweifelte. Nationalismus wäre das falsche Wort, aber einen „Reichspatriotismus“ gab es durchaus.

Das sind bereits alles Elemente, die mit der sunnitisch-schiitischen Situation wenig zu tun haben. Das beginnt bereits damit, dass der Dreißigjährige Krieg ein Jahrhundert nach Luther und ein halbes Jahrhundert nach dem Augsburger Frieden ausbrach; nach einem halben Jahrhundert hatte diese junge Konfession es geschafft, anerkannt zu werden. Das rückständige Europa mit seiner noch böseren Kirche war also in der Lage gewesen, sich vergleichsweise schnell zu arrangieren. Dass nach einem Jahrhundert dann dennoch ein Konflikt ausbrach, hatte punktuell mit der Machtlage im Reich und noch ungelöster Fragen zu tun, welche Augsburg nicht beantwortet hatte – so etwa bezüglich des Umgangs mit den Reformierten, die von Katholiken wie Lutheranern ausgegrenzt wurden. Die Zeit zwischen 1555 bis 1618 war daher eine schleichende Entwicklung, getrieben von einer Radikalisierung insbesondere einiger weniger Fürsten (den Kaiser und die böhmische Stände inklusive). Prinzipiell hatte man aber schon 1555 gezeigt, dass das Reich zum inneren Frieden fähig war, was sich beim Westfälischen Frieden 1648 erneut – und dann dauerhaft – zeigen sollte.

Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten dagegen dauert – aus schiitischer Sicht – bereits seit gut 1400 Jahren an. Ein echtes Auskommen, einen echten Ausgleich wie 1555 in Augsburg hat es in diesem über tausend Jahre langen Konflikt nicht gegeben. Auch sind die Schiiten eben keine „neu“ wahrgenommene Religionsgruppe mehr wie die Protestanten, sondern haben sich mit den Sunniten in einem solch blutigen Konflikt festgebissen, sodass ein Zusammenleben nur unter autoritären Staatsformen möglich scheint; nur unter Androhung harter Staatsgewalt können solche Auseinandersetzungen im Keim erstickt werden.

Der Name der Schiiten leitet sich von der Schiat Ali ab, der „Partei Alis“. Ali war der Schwiegersohn des Propheten Mohammed – und nach Deutung der Schiiten der rechtmäßige Nachfolger als Kalif. Die Sunniten dagegen zogen Mohammeds Schwiegervater Abu Bakr vor, der dann auch tatsächlich Kalif wurde. Diese Entscheidung war es, die Sunniten und Schiiten spaltete: also auch hier eine höchst politische Angelegenheit und weniger eine religiöse. Das aber nur auf den ersten Blick: denn im Islam Religion und Staat trennen zu wollen, erscheint schwieriger als im christlichen Reich. Im Reich existierte ein Konflikt zwischen Reichsidentität und konfessioneller Identität; aber zuletzt war es den protestantischen Herrschern möglich, sich unter den katholischen Kaiser unterzuordnen, schlicht, weil es eine Vorstellung von einem Reich, einem Reichstag und einem Kaiser als Oberhaupt gab. Ein Sunnit könnte aber nie unter einem schiitischen Kalifen, und ein Schiit nicht unter einem sunnitischen Kalifen leben – denn gerade diese Zugehörigkeit macht ja die Identität von Sunniten und Schiiten aus!

Dass sich der derzeitige Kalif des Islamischen Staates Abu Bakr nennt, ist daher aus zwei Gründen folgerichtig: einerseits will er das Kalifat wieder aufbauen, dass Abu Bakr gründete. Denn es war Abu Bakr, der die Araber siegreich in die Schlachten gegen Byzanz und die persischen Sassaniden führte, und damit der Expansion des Islams im gesamten Nahen Osten den Weg bereitete. Aber es ist auch eine Adresse an die Schiiten: seht her, Abu Bakr ist zurück, und wird euch Spalter bestrafen!

Der „neue“ Abu Bakr setzt damit einen tausendjährigen Konflikt fort, für den es nie einen Lösungsansatz gegeben hat. Die Schiiten waren über Jahrhunderte eine verfolgte Minderheit, wurden unterdrückt und verfolgt. Sie haben eine lange Geschichte des Martyriums erlitten, angefangen mit Ali selbst, der in Kufa ermordet wurde. Die Gräber der schiitischen Führer liegen zumeist im Irak, und sind seit dem amerikanischen Einmarsch bevorzugtes Ziel der Islamisten. Brutale Verfolgung und Unterdrückung der Schiat Ali gehörte zur Tagesordnung; für die Sunniten waren die Schiiten ein größeres Übel als die Christen oder Juden, weil sie prinzipiell den Herrschaftsanspruch der jeweiligen Kalifen infrage stellten. Sie erschienen als moralisch verkommen, da sie den Koran kannten, aber sich nicht unterordnen wollten.

Der einzige Rückzugsort der Schiiten sollte Persien werden, in dem die Anhänger Alis seit dem Herrschaftsantritt der Safawiden-Dynastie (16. und 17. Jahrhundert) nicht nur die politische Führung, sondern auch die Mehrheit der iranischen Bevölkerung stellen. Die Schahs von Persien waren in der Frühen Neuzeit die ärgsten Rivalen des Osmanischen Sultans; nicht zuletzt, weil die Osmanen sich als Hüter der Heiligen Stätten von Mekka und Medina verstanden, die Schahs von Persien dagegen als Verteidiger Alis. Dieser Dualismus sollte sich erst mit dem Fall des Osmanischen Reiches und dem Beginn der europäischen Kolonialherrschaft ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges legen.

Und er lebt heute im Konflikt zwischen Saudi-Arabien (sunnitische Hüter von Mekka und Medina) und dem Iran (der einzigen schiitischen Großmacht) fort.

Bereits diese kurzen Erläuterungen zur Ausgangslage dürften hinreichen um zu zeigen, mit was für verschiedenen Fällen wir es zu tun haben. Natürlich könnte man sagen: die Böhmen wollten den Kaiser weghaben, und die islamischen Konfessionen wollen sich ihrer jeweiligen andersgläubigen Herrscher entledigen; so einfach ist es aber nicht, da Böhmen nicht unabhängig werden wollte, sondern sich kurz danach einen anderen König wählte, nämlich den Pfalzgrafen – und der war weiterhin nomineller Vasall des Kaisers. An der Integrität des Reiches rüttelte niemand; man stritt sich jedoch um die Kompetenzen und die genaue Verteilung von Macht.

Überhaupt erscheint es schwierig, den Fall vergleichen zu wollen, da es keine dem Reich ähnliche Struktur im Nahen Osten gibt. Die verschiedenen Länder, die derzeit in Anarchie versinken, zeichneten sich vor allem durch ihre Egoismen aus. Es gab eine panarabische Bewegung, aber keinen panarabischen Staat. Im Mittelalter hätte man den Kalifen des vereinten Islamischen Großreiches als Äquivalent nennen können; der Vergleich hinkt aber bereits deswegen, weil der Kaiser kein autoritärer Herrscher war, sondern Oberhaupt von mehr oder minder autonomen Fürsten, die überdies den Kaiser wählten! Der Dreißigjährige Krieg begann als „Aufstand“ gegen den Kaiser – wer aber soll dieser Kaiser im Nahen Osten sein?

Und zuletzt: bereits die Vorgeschichte zwischen Protestanten und Katholiken sowie Schiiten und Sunniten ist deshalb schon schwer vergleichbar, weil es eben nie ein Auskommen, nie ein aufeinander zugehen gab. Einzig in der kurzen Zeitspanne des arabischen Nationalismus und der Säkularisierung gab es dafür Anzeichen; die geschahen aber nicht durch Abkommen, sondern von Staat zu Staat unterschiedlicher Repression jedweder Animositäten.

Dass möglicherweise dieses „Auskommen miteinander“ auch auf die christliche Religion zurückzuführen ist, während unter Muslimen der Kampf um den richtigen Herrscher Gegenstand jedweder Abgrenzung zwischen den Konfessionen war und bleibt, scheint noch keinem Journalisten in den Sinn gekommen zu sein.

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