Wodurch die Fürsten Lob und Tadel erwerben

2. November 2015
Kategorie: Fremde Federn | Machiavelli

Aus dem Principe Niccolò Machiavellis, 15. Kapitel.

15. Wodurch die Fürsten Lob und Tadel erwerben.

Es erübrigt noch die Untersuchung, wie der Fürst sich gegen seine Untergebenen und gegen seine Freunde benehmen müsse. Und da dieses schon von Manchen abgehandelt worden, so besorge ich, es werde mir zum Uebermuthe angerechnet werden, daß ich ebenfalls von der Sache rede, insbesondere da ich von meinen Vorgängern abweiche.

Da aber meine Absicht darauf gerichtet ist, etwas für den, der es versteht, Nützliches zu schreiben, so scheint es mir schicklicher, die Wahrheit so darzustellen, wie sich dieselbe in der Wirklichkeit findet, als den Einbildungen jener zu folgen: (denn manche Schriftsteller haben Republiken und Fürstenthümer erdacht, dergleichen niemals gesehen worden, oder in der Wahrheit gegründet gewesen sind) weil ein so großer Unterschied vorhanden ist unter dem, was da geschieht, und dem, was geschehen sollte; daß derjenige, der das Erste vernachlässigt und sich nur nach dem Letzten richtet, seinen Untergang eher als seine Erhaltung bereitet. Jemand, der es darauf anlegt, in allen Dingen moralisch gut zu handeln, muß unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zu Grunde gehen. Daher muß ein Fürst, der sich behaupten will, sich auch darauf verstehen, nach Gelegenheit schlecht zu handeln, und dies thun oder lassen, so wie es die Notwendigkeit erfordert.

Mit Hintansetzung alles dessen, was über erdichtete Fürsten vorgebracht worden, und um bei der Wahrheit zu bleiben, sage ich, daß allen Menschen, von denen geredet wird, und vorzüglich den Fürsten, die so viel höher stehen als andre, gewisse Eigenschaften beigelegt werden, die mit Lob oder Tadel verbunden sind. Einer gilt für freigebig, der andere für filzig, einer liebt zu geben, der andre zu rauben; einer ist grausam, der andre mitleidig; einer treulos, der andre zuverlässig; einer weibisch und feig, der andre muthig und wild; einer menschenfreundlich, der andre übermüthig; einer wollüstig, der andre keusch und züchtig; einer aufrichtig, der andre listig; einer hartherzig, der andre nachgibig; einer ernsthaft, der andre leichtsinnig; einer religiös, der andre ungläubig und so weiter.

Ich weiß wohl, daß Jedermann eingestehen wird, es sei wünschenswerth, die Fürsten möchten von allen obbenannten Eigenschaften die lobenswerthen besitzen: da aber die Beschaffenheit der menschlichen Natur nicht verstattet, dies zu erwarten, und alle jene Vorschriften zu befolgen, so ist es notwendig, klug genug zu sein, um den übeln Ruf solcher Laster zu vermeiden, über welche die Herrschaft verloren gehen könnte; vor den Fehlern aber, welche solche Folgen nicht haben, muß man sich zwar hüten, wenn es möglich ist; allenfalls aber kann man sich sogar ohne viele Vorsicht darin gehen lassen. Endlich muß man sich nicht so ängstlich vor dem bösen Rufe solcher Untugenden hüten, ohne welche man schwerlich die Herrschaft behauptet; denn wenn man die Sachen genau betrachtet, so gibt es anscheinende Tugenden, bei denen man zu Grunde geht; und anscheinende Fehler, auf denen die Sicherheit und Fortdauer des Wohlbefindens beruht.

Hervorhebungen von mir. Mit den „erdachten Fürstentümern“ meint Machiavelli Idealkonzeptionen, das heißt, all jene Utopien und Staatsgebilde, wie wir sie heute aus Ideologien kennen. Machiavellis Politik ist auf kluge Staatserhaltung, nicht auf ein „letztes Ziel“ ausgerichtet. Für Machiavelli sind „One World Government“, ein „Ende der Geschichte“, eine kommunistische/sozialistische Endstaatsform oder dergleichen a priori nicht denkbar, weil für Machiavelli jedwedes Handeln für den existenten Staat erfolgt, nicht für irgendwelche hanebüchenen Zukunftsvisionen. Zwar hat auch Machiavelli verschiedene Ideen, wie ein Staat auszusehen hat, aber dabei handelt es sich um Rezepte, nicht um einen großen Plan. Der Staat lebt aus sich selbst heraus, er braucht keinen paradiesischen Endszustand, der in der Abschaffung des Privateigentums oder der Auflösung nationaler Grenzen endet.

Garant dieses Staatszustandes ist der Herrscher, der Fürst. Der muss sich darüber bewusst sein, dass er zur Erhaltung des Staates auch Böses tun muss; die eigenen Schwächen muss er jedoch kaschieren, und wenn ihm gewisse Tugenden fehlen, wenigstens so scheinen, als hätte er sie (und wiederum die eigenen Laster, sollte er sie haben, zumindest nicht an die Öffentlichkeit dringen lassen). Auch das sollte man nicht allein als Eigennutz verstehen, der nur des eigenen Machterhalts wegen existiert – im Kontext gesehen geht es auch hier um das Staatswohl, nicht das Privatwohl. Der Fürst ist und bleibt Instrument der Staatsraison. Meines Erachtens nach gehört diese Stelle zu einer der vielen missverstandenen Passagen, da nicht darauf geachtet wird, in welchem Kontext diese „Heuchelei“ des Fürsten steht, der vorgibt, alles zu können, um nicht gestürzt zu werden.

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