Raoul Schrott ist ein österreichischer Schriftsteller, der vor einigen Jahren mit zwei Büchern für Aufregung sorgte: erstens mit einer Theorie über den Urvater der europäischen Literatur, den großen griechischen Dichter Homer. Der Verfasser der Ilias und Odyssee war demnach ein griechischer Eunuch aus Kilikien, der an einem südöstlichen Fürstenhof über die dortigen Begebenheiten berichtete. Troja habe nichts mit der Siedlung an den Dardanellen zu tun, und überhaupt habe sich die gesamte Homer-Forschung geirrt. Konsequenterweise war das zweite Buch, mit dem Schrott sich den Furor der Forschung und die Herzen der Feuilletons sicherte, eine Nachdichtung von Homers Ilias.
Ich unterstreiche: eine sehr freie Nachdichtung, keine Übersetzung. Aus dem „Zorn“ des Achill, dem monumentalen Eingang in die altgriechische Geistesgeschichte wird nur noch „Bitternis“; allein daran sieht man, dass Schrott nicht nur im Griechischen, sondern auch im Deutschen nicht immer treffsicher ist. Denn „Zorn“ ist eine „gerechte“ Sache, er ist nicht nur emotionaler Ärger, sondern hat einen nachvollziehbaren Grund. Man vergleiche dazu den „Zorn Gottes“, der aus der Schlechtigkeit der Menschen resultiert, und eben keine Laune der Natur ist. Das schöne Wort „Groll“, das an ein aufziehendes Gewitter erinnert, und allein lautmalerisch in vielen Übersetzungen die Stimmung dieses Epos auf die ihm gebührende Ebene hebt, wird hierbei zugunsten eines nicht genauer definierten Ärgers geopfert. So, als handelte es sich bei Achill um einen emotionsgeladenen Teenager, den man irgendwie – nun ja – verärgert hat.
Sollte sich der ein oder andere fragen, ob er richtig gelesen hat, so wiederhole ich an dieser Stelle: ja, Schrott hat Probleme mit dem Altgriechischen. Vor allem, weil er keines gelernt hat. Nun will ich mich hier nicht als Experten aufführen: ich habe an der Schule nur fünf Schuljahre damit zugebracht. Dennoch kann ich daraus eine gewisse Skepsis ziehen. Zuerst einmal, weil ja auch das Griechische eine Wandlung durchgemacht hat – logisch, bei den vielen Jahrhunderten, die es als Verkehrssprache das östliche Mittelmeer dominierte. Zwischen der Koine, also dem Umgangsgriechischen der neutestamentarischen Evangelien, und dem Ionisch-Attischen des Klassischen Athen, bestehen bereits einige Unterschiede. Hinzugefügt sei: neben dem Ionisch-Attischen gab es noch andere dominierende Dialektgruppen, so das Dorische (Sparta!) oder das Äolische (Thessalien und Boötien mit Theben) – neben vielen anderen. Das Homerische Griechisch wiederum stammt aus einer Periode, die ca. 300 Jahre vor der klassischen Zeit lag, und über einige Eigenheiten verfügt; so haben bestimmte Vokabeln eine andere Bedeutung. Im Deutschen ist es ja nicht anders: wenn sich heute eine alte Dame empört, dann ist sie beleidigt; wenn sich im Mittelalter ein Adliger empörte, dann hieß das: er zettelte einen Aufstand an.
Kurz: wenn jemand, der kein Italienisch spricht, sich plötzlich dazu erheben würde, eine Dante-Nachdichtung herauszugeben, Dantes Leben in Frage stellt, und außerdem behauptet, alle Dante-Forscher der letzten Jahrhunderte hätten sich geirrt – so würden ihn vermutlich alle auslachen.
Wenn jemand ohne Altgriechischkenntnisse dasselbe bei Homer tut, bekommt er stattdessen Platz und Bühne in der „Qualitätspresse“.
Viele lobten dort die „moderne“ Interpretation, die ja viel besser sei als die episch-schwülstigen Übersetzungen der letzten beiden Jahrhunderte. Das ist natürlich Käse: Homer ist auch im Original schwülstig, episch ausladend und bei vielen Dingen sehr zurückhaltend.* Schrott dagegen dichtete insbesondere gerne sexuelle Phantasien herbei oder zog die Sprache ins Vulgäre. Dem Anspruch, die Wurzel der Odyssee zu fassen, läuft dem ganz zuwider, nämlich das von Homer verwendete Griechisch war wohl schon zu seiner Zeit antiquiert und für manchen aufgrund der hohen Qualität zu unverständlich. Aber das macht ja eben das Epos aus: die erhebende Stimmung, die das Umgangssprachliche und Gewöhnliche zugunsten der Größe selbst sprengt.
Ich kann leider hier nicht Schrotts gesamte Fehlerbreite aufführen; das haben andere schon zur Genüge – und weitaus besser! – getan. Hier geht es zur Kurz-Rezension von Paul Dräger, zusammen mit einer weiterführenden, längeren Rezension.
Warum komme ich heute auf Schrott? Weil der Mann mal wieder gewütet hat, und dieses Mal bei nichts anderem als dem Proöm der Ilias selbst, dem eben von mir erwähnten Zorn des Achill. So schreibt die FAZ reißerisch: Übersetzungsfehler der Ilias: Homers Muse singt nicht.
Das ist ja schon ein starkes Stück, wenn jemand, der kein Altgriechisch gelernt hat, nun der Forschung über Jahrhunderte diesen Fehler ankreidet, den erst er, Raoul Schrott, höchstselbst festgestellt hat (was nichts daran ändert, dass Schrott 2008 den Text noch dem allgemeinen Konsens gemäß so nachgedichtet hat). Die Sache wäre ja noch lustig, wenn man dem Mann nicht so ein Podium gäbe, und einige Leute auch noch diesem Geschwätz glaubten.
Für jene, die sich nicht so auskennen: normalerweise steht am Anfang der Epen ein Musenanruf, heißt, der Autor ruft eine Muse an, um ihm bei der Entstehung seines Werkes zu helfen. Traditionell ist dafür Kalliope, die Muse der epischen Dichtung zuständig, eine von neun Töchtern des Zeus, welche die schönen Künste darstellen. Jetzt aber – so Schrott – sei das gar kein Musenanruf. Was jeder Schüler im ersten Unterrichtsjahr oder Student in der Altphilologie lernt, stößt Schrott erst einmal grob zur Seite:
Auch die gängige Interpretation, der zufolge es sich bei der angerufenen Göttin um eine Muse im herkömmlichen Sinn handelt, ist so nicht richtig. Keine der neun Schirmherrinnen über künstlerische und somit weltliche Werke hätte Status genug, um als Instanz über allem und allen zu stehen – auch den Göttern, deren intime Geheimnisse und egoistische Intrigen sie somit im Verlauf der Geschichte preisgeben würde. Um sie auf einen solchen Sockel zu setzen, müsste man dazu das Primat der Poesie über die Religion behaupten – etwas, das sich erst mit dem Hellenismus abzuzeichnen beginnt. Welche Göttin ließe sich sonst über Zeus erheben, dass sie so freimütig von dessen unmoralischen Umtrieben erzählen könnte? Weder Hera noch Aphrodite oder Athene kämen dafür in Frage – dafür werden sie in der „Ilias“ zu sehr der Lächerlichkeit preisgegeben, sind sie in ihren Rollen zu parteiisch, als dass ihnen die für ein Epos nötige unumstößliche Legitimation zukäme.
Das ist in erster Linie: Spekulation. Der Konsens der modernen Forschung und auch der alten Tradition – meines Wissens nach kommentieren auch schon die Griechen und Römer es genau so, und es ist ja nun auch kein Zufall, dass auch Vergil eine Muse herbeiruft – spricht eine andere Sprache. Stattdessen geht Schrott davon aus, dass Homer keine Muse anruft, sondern vielmehr sie anspricht, weil sie jemandem grollt. Und die Muse sei auch keine der olympischen Musen, sondern Musuni, eine kilikische Gottheit, die er mit Themis gleichsetzt. Aus:
Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus,
Den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte
Macht Schrott:
Groll verkünde, Themis, über Peleus’ Sohn Achilleus und seinen Zorn:
richte ihn zugrunde, da er unsägliches Leid über die Achaier brachte
Muss jetzt also die gesamte Philologie, die sich seit den ersten vorchristlichen Jahrhunderten mit Homer beschäftigt, ihn rezipiert und interpretiert hat, umorientieren? Nach Schrott müssen sich ja schon die altgriechischen Kommentatoren geirrt haben, wenn sie vom Zorn des Achill sprachen. Aber schön, wenn jemand, der selbst nur ein paar Brocken Griechisch kann, nach 2.700 Jahren jemanden die eigene Muttersprache erklärt.
Der Hintergrund ist einfach. Schrott versucht mit allen Mitteln seine Theorie einer kilikischen Herkunft Homers zu untermauern. So muss jedes Mittel bemüht werden, um Anhaltspunkte in der Ilias zu finden, die es offenbar nicht gibt. Also: Musuni ist Themis. Themis wird angerufen, weil etwas dort von Musunis, nicht „Muse“ steht. Themis ist überhaupt die höchste Gottheit, weil sie keinen Beinamen braucht, wie der blöde Zeus, der immer als Wolkensammler auftritt – was an sich schon zweifellos kein Argument ist, weil die Beinamen mehrheitlich als Lückenfüller für das richtige Reimschema dienen, und nicht zuvorderst als Titel anzusehen sind (ganz abgesehen davon, dass auch Hera ohne Epitheton auskommt). Weil aber eigentlich Themis die höchste Göttin ist, und die auch in Kilikien diese absolut wichtige Rolle hatte, kam Homer aus Kilikien. Alles klar?
Ganz unklar wird es, wenn wir das mit der Odyssee vergleichen. Sollte Schrott nicht auch noch die Theorie aufstellen, dass die Odyssee gar nicht von Homer stamme, und einen ganz eigenen Hintergrund habe, wird er spätestens hier auf Probleme stoßen; denn im Gegensatz zu der Mehrzahl der Griechischschüler habe ich nicht die Ilias, sondern die Odyssee im Unterricht gelernt. Zusammen mit dem Proöm, das ich noch im gestrigen Beitrag mit schmerzvollem Blick auf die Erosion der europäischen Bildungskultur erwähnte; dort steht ganz klar:
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
Da! Eindeutig ein Musenanruf! Aber Moment: Schrott würde ja einwenden, es handelte sich um Themis, die Schwester des Kronos, Tante des Zeus und ihres Zeichens Tochter von Uranos und Gaia. Aber:
Aber die Freunde rettet’ er nicht, wie eifrig er strebte;
Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers
Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.
Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.
Tochter Kronions! Das ist im Original: thygater diós, also Tochter des Zeus! Die Muse wird also eindeutig so definiert, wie man sie auch Jahrhunderte zuvor definierte. Hätte Schrott einfach mal in die „Fortsetzung“ geschaut, und nicht nur auf die Ilias, heißt, mal in die Quellen gesehen (das tun Wissenschaftler üblicherweise um ihre Arbeit – wie sagt man noch? – wissenschaftlich abzusichern), dann wäre ihm schlagartig aufgefallen, dass die gesamte „Musuni“-Konstruktion sofort zusammenkracht.
Aber auch das wird die Medien nicht aufhalten, diese Sau mal wieder durchs Dorf zu treiben, und zu behaupten, man hätte den Stein der Weisen gefunden. Traurig daran aber ist: nicht wenige werden es auch noch glauben, weil klassische Bildung obsolet geworden ist. Und hiermit kommen wir zu ganz aktuellen Problemen: Leute, die etwas scheinen, sind mehr wert geworden, als die, die etwas können. Und das Volk, das selbst nicht gebildet ist, und sich gerne von anderen etwas erzählen lässt, ist nicht mehr in der Lage, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.
Kein Zufall, dass die meisten Aufklärer klassisch gebildete Menschen waren. Da hilft dann auch keine Odyssee in 10 Minuten mehr.
_________________________________
*Aus Homers „Zeus, Vater, nicht schön ist es, sich übermäßig zu rühmen“, wird bei Schrott: „bei zeus – was bist du doch ein arrogantes arschloch!“
Und ja: In Schrotts Nachdichtung wird alles klein geschrieben!