Vor einiger Zeit las ich diesen Artikel in der Onlineausgabe der FAZ, und selbst nach Tagen will mir dieser nicht aus dem Kopf. Es sei gesagt, dass ich das Konzept der Weltliteratur to go (to go? Heißt das „Weltliteratur zum Weglaufen“?) prinzipiell nicht schlechtfinde und einige Einfälle Michael Sommers komisch und gelungen brillieren. Der von der Autorin hervorgehobene Aspekt mit Klopstock brachte auch mich zum Lachen. In solchen Momenten ist eine 10minütige Wiedergabe der großen Werke begrüßenswert.
Aber sofort muss ich einschränken: denn wem, wenn nicht dem, der das Buch tatsächlich kennt, oder der mal wenigstens von Klopstocks Gedicht gehört hat, kann den Gag wirklich nachvollziehen? Klar, es kommt komisch rüber, wenn etwas davon erzählt wird „ob Käfer eine Seele haben“ – aber kann der Nichtkenner wirklich darüber in derselben Weise lachen wie der Eingeweihte? Ich behaupte nicht. Die Anspielung wirkt immer am besten, wenn man sie kennt. Wenn ich etwas ins Lächerliche ziehe, muss ich doch auch das bierernste Original kennen, um die Lächerlichkeit wirklich zu bemessen.
Wo wir bei der Frage des Zielpublikums wären: nämlich dem „überforderten Schüler“. Spätestens da verlieren sich sowohl Sommer als auch die Artikelschreiberin im intellektuellen Nebel. Denn wenn ich dem Schüler den Inhalt als Fast Food anrichte, wie kann ich dann überhaupt sichergehen, dass sich der Schüler jemals mit Klopstock beschäftigen wird? Spielt es für ihn noch eine Rolle? Wie alle Menschengruppen ist die Schülerschaft mehrheitlich faul.
Doch der Reihe nach. Sommers Konzept: den Inhalt von Romanen mit lustigen Playmobilfiguren erzählen. Ähnlich dem großen Harald Schmidt, der so einstmals den ganzen Ödipusmythos erzählte (ja, ich war dabei!). Aber nun die Einschränkung: Schmidt hat dazumal eine ganze Sendung für so eine Inszenierung aufgewandt, und eben nicht nur 10 Minuten. Das hatte zweifache Wirkung: erstmal eine humoristische, weil teilweise zum Brüllen komisch – und dann die bildungstechnische, weil Schmidt wirklich en detail erklärte und nicht zuletzt auch die Hintergründe belichtete. So kam beim Ödipus, der Delphi besuchte, auch gleich der ganze Hintergrund des Orakels mit.
Ganz abgesehen davon, dass der Ödipusmythos bedeutend kürzer ist als Werthers Leiden.
Insofern tun Sommer und Schmidt das gleiche, aber eben nicht dasselbe. Dass dann sowohl Sommer wie auch die Artikelschreiberin Melanie Mühl von überforderten Menschen sprechen, die keine Zeit mehr hätten, und für die eben jene Videos seien, ist der Aspekt, der hier genauerer Prüfung bedarf. Beginnen wir schon mit dem Eingangstext:
Wir haben weder Zeit in Ruhe zu Essen, noch die Ruhe im Sitzen zu Trinken. Da wird man wohl kaum Zeit für einen 800 Seiten dicken Roman haben.
Ich will mich ja nicht in das Privatleben von Frau Mühl einmischen, aber wenn sie weder im Sitzen trinkt noch isst, so sollte sie das nicht verallgemeinern. Hier kann man dasselbe betonen wie beim Lesen: man nimmt sich für etwas Zeit. Wenn gerade Essen und Trinken hier als Beispiele fallen, bestätigt das wieder mein Vorurteil, dass unsere Esskultur im Niedergang begriffen ist, und damit auch unsere zivilisatorische und hochkulturelle Blüte. Wer ernsthaft der Meinung ist, er habe keine Zeit, sich dabei Ruhe zu nehmen, den will ich fragen, was so wichtig sein kann: denn Arbeiten muss jeder, und das seit der mythologischen Vorzeit. Im 19. Jahrhundert konnten die Menschen noch von einer 50-Stundenwoche träumen. Und Frau Mühl will allen Ernstes behaupten, dass „wir“ keine Zeit mehr haben? Effi Briest, dieser riesige Fontanewälzer, entstand zur Zeit der industriellen Revolution, als Fabrikarbeiter meistens nicht einmal eine Mittagspause hatten. Klar, für Fabrikarbeiter war Effi Briest auch nicht bestimmt – aber verglichen mit denen sind wir so privilegiert, dass jeder Mensch am Wochenende durchaus Zeit hat, ein Buch zu lesen oder im Sitzen zu essen.
Davon, dass ich am Sonntag wieder anderthalb Stunden in der Küche stand, will ich gar nicht beginnen; einmal die Woche sollte man sich ein Ritual gönnen, am besten am Ruhetag des Herrn, um sich auf das Natürliche zu besinnen. In derselben Zeit hätte ich natürlich auch ein Buch lesen können. Oder schreiben. Wir sind nicht so determiniert, wie hier postuliert. Die zeitgenössischen Menschen haben mehr Freizeit als all jene zuvor. Dass man sie schlechter einteilt als unsere Vorfahren, steht auf einem anderen Blatt. Kommen wir daher nochmals zum Zielpublikum:
Wer er selbst ist und wer sein Zielpublikum, erklärt Sommer in einem Video, während auf seinem Schoß ein Hund sitzt. Theater und Literatur seien schön, sagt er, für den Hausgebrauch aber deutlich zu lang. Würden wir noch im neunzehnten Jahrhundert in Schweden oder sonstwo abgeschnitten von der Zivilisation leben, hätten wir vielleicht Zeit, einen 800 Seiten starken Roman zu lesen, in dem noch nicht einmal eine Fantasy-Figur vorkomme. Wonach sich der gehetzte Mensch demnach sehnt, selbst in der Welt der Literatur, deren Kern der To-go-Kultur zuwiderläuft, ist die totale Vereinfachung. „Verhackstücktes“ nennt Sommer selbstironisch seine Videos.
Den überforderten Menschen, der ein treuer Fan von „Sommers Weltliteratur to go“ ist, stellt man sich am besten als Schüler vor, dessen Alltag durchgeplant ist, weshalb ihm die Lese- und überhaupt die Zeit ständig davonzulaufen scheinen. „Wir brauchen eine knackige Kurzversion, die alles Wichtige enthält und sich mit bunten Bildern in unsere Großhirnrinde einbrennt“, sagt Sommer. Seine Gemeinde dankt es ihm und postet Kommentare wie: „Vielen, vielen Dank für dieses Video 😀 Das hat mir meinen Lektüretest auf jeden Fall gerettet“, oder: „Sehr schön, dass es diese Zusammenfassungen gibt! Ich habe da nämlich echt Probleme derartige Bücher zu verstehen. Also ich bin auch wirklich nicht lese-faul oder so 😉 gäbe es dieses Video nicht, dann wäre meine Abiturnote völlig im Eimer nur wegen meiner Deutschnote.“
Das ist ein starkes Stück. Wir fassen zusammen: Schüler scheinen heute weniger Zeit zu haben als die Fabrikarbeiter der Industriellen Revolution, denn sie sind „völlig durchgeplant“. Auch frühere Generationen mussten dicke Bücher wälzen: hatten die weniger zu tun? Wenn ich an meinen Mathematiklehrer denke, der uns erzählte, dass er noch zu seinen Schulzeiten mit dem Fahrrad aus der Eifel bis in die Schulstadt fahren musste (gute 15 Kilometer), und nachmittags noch die Rinder versorgte, habe ich große Zweifel. Mein Vater musste ebenfalls noch auf dem Hof mithelfen, zur Schule gehen, arbeitete zudem ab seinem 13. Lebensjahr und ließ sich von weniger zutraulichen Gefährten über die Schotterpiste bis nach Brescia mitnehmen. Ich glaube kaum, dass diese beiden Männer als Jungs Zeit gehabt hätten, nebenbei auf Youtube Kommentare zu posten.
Von den Anforderungen des Unterrichts ganz zu schweigen; zumindest ist mein subjektiver Eindruck, dass diese immer weiter zurückgegangen sind. Mein Griechischlehrer musste noch das ganze erste Kapitel der Odyssee (450 Verse!) auswendig lernen, meine Generation nur noch das Proöm (10 Verse). Vermutlich tut es heute eine Inhaltsangabe – wenn man den griechischen Text überhaupt noch liest, und nicht gleich die Übersetzung zur Hand nimmt.
Mit dieser merkwürdigen „Die Leute hatten es früher besser“-Mentalität ist aber noch nicht Schluss. Denn es geht – wie so oft – ums Prinzip. Was soll denn der Schüler mitnehmen? Wir lernen:
Der eine oder andere Bildungspessimist wird sich bei der Vorstellung von Schülern, die sich Schiller oder Goethe per Playmobilfiguren erklären lassen – in einem Tempo, in dem man nicht einmal ein Big-Mac-Menü vertilgen würde -, gewiss die Haare raufen. Natürlich kann man sich fragen, ob bei dieser unerhörten Weltliteraturverhackstückung das Leseerlebnis (oder ebendie Lesequal), das Erarbeiten eines komplizierten Stoffes, das tiefe Eintauchen und die ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Werk nicht auf der Strecke bleiben. Gleichzeitig gilt, dass für Interpretationsfragen in erster Linie der Unterricht da ist.
Aber was soll man denn interpretieren, wenn man nicht den Roman selbst kennt – sondern nur die Inhaltsangabe? Zu Klopstock zurück: wie soll ich das Gedicht interpretieren, wenn ich nur „darüber“ gelesen habe, aber es eben nicht selbst? Wie um alles in der Welt sollen Schüler denn lernen, einen dicken Roman zu wälzen, wenn sie schon in diesen jungen Jahren lernen, dass eine Kurzzusammenfassung reicht? Auch Lesedisziplin ist eine Disziplin. Und ich kann mir nur eine Meinung bilden, wenn ich die Quelle, das Original fundiert gelesen und analysiert habe. Das ist der Kern jeder Kritik.
Aber wie in der Geschichtswissenschaft, wo immer mehr Leute zur „Literatur“ irgendeines Menschen greifen, statt in die Quellen zu schauen, findet man auch hier denselben Geist der Vereinfachung, weil man ja „viel zu wenig Zeit“ hat. Dabei steht es anderer Stelle doch viel klarer: man hat schlicht keine Lust, weil Lesen eine „Qual“ sein kann. Und was mir nicht das Leben versüßt, muss geändert oder abgeschafft werden. Das ist Hedonismus in Reinkultur. So kann man sich eine Meute ja-sagender Idioten heranzüchten, aber sicherlich keine kritischen Geister, die auch mal die Mediatoren des jeweiligen Stoffes infrage stellen könnten, weil in den Quellen etwas ganz anderes steht. Genau das – die kritische Beobachtung der Zustände – ist von Werther über Briest bis Ulysses eine Hauptaufgabe der Literatur. Wie soll man aber bis dahin kommen, wenn man nur noch lernt zu sehen, statt zu schauen? Bald braucht man keine Bücher mehr zu verbrennen, wie es in Fahrenheit 451 der Fall ist: sie werden in den Büchereien unbenutzt vor sich hinverotten, weil keiner mehr „Lust“ hat zu lesen.
Es ist wie beim Kochen. Zuerst verlernt man zu kochen, dann verlernt man, was gutes Essen ist, und zuletzt ernährt man sich nur noch vom Junkfood, was ursprünglich nur übergangsweise geplant war. Das ist kein Pessimismus, sondern eine logische Entwicklung. Irgendwann redet man nur noch übers Kochen, oder sieht sich Kochsendungen im Fernsehen an. Je mehr man über eine Sache redet, desto weniger passiert sie.*
Zuletzt sind die großen Stücke der Weltliteratur einem Genre zuzurechnen, das Wert auf Breite legt, ob nun Roman, Drama oder Epos. Wenn eine Geschichte als Roman erscheint, dann eben mit besonderen Hintergedanken: komplexe soziale Beziehungen, das Innenleben der Protagonisten, Intertextualität, die „großen Themen“ können hier weit besser ausformuliert werden als in einer Kurzgeschichte. Man hat schlicht mehr Platz dafür. Mehrere Handlungsstränge sind nur in einem Genre wirklich gut auszubreiten, wenn man genügend Zeit dazu hat. Wollte man es kürzer und griffiger, hätte man auch eine Novelle, eine Kurzgeschichte oder eine Anekdote daraus machen können. Der Autor hat sich aber etwas dabei gedacht, sein Stück so, und nicht anders zu verfassen. Dieser Entscheidung ist Rechnung zu tragen. Wer sich überfordert fühlt, oder „keine Zeit hat“, kann immer noch zur short story greifen; einen Anspruch zu entwickeln, Geschichten auf die vereinfachteste und kürzeste Form zusammenzustauchen, entsteht daraus nicht.
Über den Inhalt eines Buches zu sprechen ersetzt es demnach beileibe nicht, dieses zu lesen. Romane sind eben darauf ausgelegt, dass sie hunderte Seiten fassen, sonst wären es keine Romane. Dasselbe gilt für Epen. Wie ein Kommentator füchsisch schreibt: auch Dantes Göttliche Komödie sei ja nur eine Reise durch Hölle, Fegefeuer und Himmel. Das ist der ganze Inhalt! Aber bringt das irgendeinen Mehrwert? Gibt es irgendeine Erkenntnis, das zu wissen? Versteht man nur etwas von der mittelalterlichen Spiritualität, dem tragischen menschlichen Leben und dessen Erlösung, der europäischen Geschichte und Kultur, weil man das weiß? Und wie viel kann man von Dante mit diesem Wissen deuten? Die Antwort ist: gar nichts! Tatsächlich hilft es überhaupt nichts, den Inhalt von Dante zu wissen, um Dante zu verstehen, weil die ganze Geschichte nur aus Deutung besteht. Ohne Vorwissen ist es unmöglich, das Buch zu begreifen; die innere Komplexität kann auch gar nicht anders wiedergegeben werden, ohne das Buch selbst zu lesen. Ein Film vermag nicht das Reimschema zu kopieren, oder die Zahlenmystik wiederzugeben. Jedes Bruchstück, das man von Dante entfernt, zerstört ein Stück des Rätsels.
Insofern: kann man Dante in 10 Minuten zusammenfassen? Ja, man kann. Aber es ergibt keinen Sinn, wenn man nicht zuvor schon Dante kennt, und sich an den 10 Minuten amüsieren kann, weil man die Anspielungen versteht. Wer glaubt, dass Schüler dadurch etwas lernen, irrt gewaltig. Sie begreifen nur, dass man gebildet sein kann, ohne sich anzustrengen. Das aber ist ein Fehlschluss. Wir mögen keine Zeit mehr haben, die Comedia zu lesen, das befreit uns aber eben nicht davon, es dennoch zu tun.
Wir leben im Informationszeitalter. Nicht im Wissenszeitalter. Nur, weil ich weiß, wo etwas steht, heißt das nicht, dass ich verstehe, was es bedeutet.
_____________________
*Was übrigens mal eine interessante Hypothese bezüglich der allgegenwärtigen Sexualisierung der Medien wäre.