Einige Facetten Deutschlands werde ich nie verstehen; aber ich begreife sie mehr, wenn ich die deutschen Orte besuche, die als Herzschlagadern der Republik gelten. Erst in Berlin konnte ich wirklich greifen, warum die Politik so läuft, wie sie in Deutschland läuft; und in Frankfurt glaube ich besser verstanden zu haben, weshalb die deutsche Intelligenz sich so verhält, wie sie sich verhält.
Frankfurt ist eine merkwürdige Stadt. In nahezu allen deutschen Städten klaffen die Lücken des großen Krieges; und überall haben sich jene nichtssagenden Bauten eingezwängt, die an der Stelle des Kulturgedächtnisses Platz genommen haben. Frankfurt ist ein höchst symbolischer Ort: intellektuell, kulturell, historisch, politisch.
Im Reich galt Frankfurt aufgrund seiner zentralen Lage als Wahl- und Krönungsort der Kaiser zugleich (und hatte damit Aachen den Rang als Krönungsstadt abgerungen). Aus demselben Grund galt Frankfurt als beliebter Tagungsort des Reichstages, da alle Fürsten, Bischöfe und Bürgermeister denselben Anfahrtsweg hatten. Kurz: neben Wien, wo die Habsburger ab dem 16. Jahrhundert residierten, und Regensburg, wo der Immerwährende Reichstag ab dem 17. Jahrhundert tagte, galt Frankfurt als eine der gefühlten Hauptstädte des alten Deutschlands.
Der Bartholomäusdom, den die Frankfurter „Kaiserdom“ nennen, war allerdings für mich eine einzige Enttäuschung. Das soll die Krönungskirche Maximilians II., Leopolds I. und Franz II. gewesen sein? Ein merkwürdiger – da ist das Wort wieder! – Bau in jedweder Hinsicht: das Langschiff dieses „Dömchens“ ist so kurz wie das meiner alten Dorfkirche, die Seitenflügel dagegen so lang wie manches Kirchenschiff; die Decken sind für ein Gotteshaus dieser Größe bedauerlich niedrig. Und es mag bei mir kein Gefühl aufkommen, wie ich es sonst an diesen Orten empfinde: allein der spärliche, steinerne Altar zweitvatikanischer Prägung stößt mir dafür zu sehr auf. Die gotischen Kunstwerke wollen auch nicht so recht in die Harmonie des Hauses passen.
Es ist, als könne sich Sankt Bartholomäus nicht entscheiden, was er sein, was er repräsentieren will: hohe Gotik, oder reine Romanik; kaiserliche Pracht oder Schlichtheit der Nachkriegszeit; repräsentative Reichskathedrale, oder eine unbedeutende Kirche, wie man sie in jeder mittelgroßen Stadt findet. Die faustisch-deutsche Zerrissenheit erscheint in dieser Flickschusterei greifbar: ist das auch die Wahrnehmung der Zeitgenossen im Alten Reich gewesen, das aus hunderten Flicken bestand? Wenn ja, dann muss ich wohl mein positives Bild der deutschen Frühen Neuzeit revidieren.
So kann keine Kirche leben – und auch kein Reich. Erhabene Gefühle werden hier nicht wach; was nicht nur auf die Kirche, sondern auch den Besucherandrang zurückzuführen ist, der die Heiligkeit des Ortes sprengt. Räume haben ein Gefühl, eine Aura; die des Frankfurter Domes scheint entweder nach dem Untergang des Reiches, im Preußenbrand oder Kriegsfeuer verloren gegangen zu sein.
In Aachen, im alten Achteck unter dem Barbarossaleuchter spüre ich etwas, da ist die Größe und die Heiligkeit des Reiches greifbar, es inspiriert, es fasziniert, es ist ein ganz und gar magischer Ort, wo der Mythos greifbar ist.
In Frankfurt dagegen sehe ich von außen auf den gotischen Turm, auf dessen Spitze – wieder: merkwürdig! – eine Kuppel thront, wie man sie in Aachen findet. Aber kleiner. In Miniatur. Eine Erinnerung an die alte Krönungsstätte, aber nur ein Abglanz.