Was für Sankt Bartholomäus gilt, lässt sich über ganz Frankfurt sagen, das einst, im alten Reich, nicht nur seine Blütezeit erlebte, sondern zugleich als Ausdruck des Deutschtums gelten konnte. Dazumal die Stadt mit der größten gotischen Innenstadt Europas, Mittelpunkt als Messe- und Buchstadt, Symbol deutschen Bürgertums und kaiserlicher Verbundenheit, freie Reichsstadt und Geburtsstadt Goethes. Kommt man von Sachsenhausen über den Eisernen Steg zum Römer, mag man einige Sekunden lang weiter dieser Illusion erlegen sein; doch schon zwischen Gotik und Fachwerk wälzt sich im Norden die vierspurige Berliner Straße durch die Altstadt und schlägt eine Wunde mitten durch das Zentrum. Dahinter, auf einem viel zu großen Platz die Paulskirche, die den Kaiserdom in ihrer Symbolkraft als Geburtsort eines neuen Deutschlands verdrängte.
Auch hier wankt Frankfurt zwischen Tradition und Ideenlosigkeit, romantischer Verklärung und technischer Moderne, und zuletzt zwischen guter deutscher Provinzialität und übertriebener Großmannssucht. Da ist kein Maß, keine Harmonie, keine Symbiose, sondern Beton der auf barocken Stein stößt. Das Areal zwischen Dom und Römer ist schon auf nationaler Ebene berüchtigt gewesen; kein Stadtareal der Republik galt (und gilt?) als verbauter. Noch immer zeugen die Baustellen vom Umbau, davon, dass man das „alte“ Frankfurt an der Stelle wiederbeleben will, wo jahrelang das brutalistische Technische Rathaus stand – ein einziger Triumph des Stahlbetons gegen die Architektur von 2.500 Jahren.
Das Technische Rathaus steht nicht mehr… und dennoch: da liegt dieses hässliche Bauwerk, das sich „Kunsthalle“ nennt, genau zwischen diesen beiden wichtigsten Punkten der Altstadt, das alles, aber keine Kunst darstellt, und jeden Italiener, der seine historischen Stadtzentren liebt, zum Heulen bringt. Man fragt sich, was für herzlose Kreaturen dieser Stadt dergleichen antun konnten. Da ist sie wieder: die deutsche Gemütlichkeit, der sich dieser Alptraum aus Beton und Monumentalität entgegenstellt, den Blick auf Römer und Dom verwehrt – und damit auf die eigene Identität.
Man hat den Eindruck, Frankfurt will vergessen. Es will etwas verdrängen. Als wollte es sich von etwas lösen, das lange zurück liegt, um es dann mit Straßenasphalt, Stahlbeton, Glas und allen möglichen Gebäuden schlechten Geschmacks zu verdecken. Köln ist womöglich eine der hässlichsten Städte Deutschlands, aber dort merkt man, wie alles aus der Not geboren, aus dem Mangel gebaut worden zu sein scheint. In Frankfurt hat man dagegen den Eindruck, man habe noch in der Nachkriegszeit versucht das auszumerzen, was an die Vergangenheit erinnerte; diese Sünde hat Köln – wenigstens in diesem Ausmaß – sich nicht angetan. Köln hat sich zwar verschandelt, es hat sich aber nicht verraten. Vermutlich ist das ein Motiv, weshalb der Kölner bis heute so stolz auf seine Heimat ist, während der Frankfurter sich deutlich selbstkritischer zeigt.
Und es scheint, dass Frankfurt, weil es so voller Geschichte ist, sich in brutaler Geschichtslosigkeit ertränken musste. Nur spärlich ragt da ein altes Haus aus der Vergangenheit heraus, das von einer versunkenen Stadt erzählt; ein alter Stadtsitz, auf dem das Wappen der Thurn-und-Taxis prangt; Goethes Geburtshaus, das mit seinen verspielten Fenstern und Dekorationen sich gegen den Einheitsbrei des 20. Jahrhunderts links und rechts entgegenstemmt; und zuletzt die alte Hauptwache, die auf dem gleichnamigen Platz wie eine römische Ruine zwischen weidenden Schafen und Hirten wirkt.
Das Gebäude steht auf dem gleichnamigen Platz, der als Zentrum der Stadt gepriesen wird. Ein Ort, so austauschbar mit seinen uninteressanten Bauten, Geschäften und multikulti Buntheit, so weltoffen und kosmopolitisch, dass jeder bayrische Dorfplatz dagegen als schützenswertes Weltkulturerbe erscheint. Auch der Blick auf die Zeil, die mal als eines der prächtigsten Boulevards Europas galt, ist nunmehr eine Ansammlung architektonischer Erbärmlichkeit, die man so in jeder amerikanischen Großstadt findet. Ein Plakat an der Hauswand prahlt mit Frankfurts Statistiken; Geburten, Einwanderer und 180 Nationen, die Frankfurt so vielfältig machten.
Wenn Vielfalt so ausschaut, dass alle unsere Städte am Ende völlig gleich und charakterlos wirken, und man nicht mehr weiß, ob man in Hessen, Illinois oder Istanbul ist – dann täte uns allen der Deutsche Grauton gut. Die „Vielfalt“ und „Buntheit“ auf diesem Platz an der Hauptwache, mit seinem „Loch“* könnte einen sonst vor Trostlosigkeit ersticken. Ist das wirklich das „bessere“ Deutschland, wie die Presse jubelt? Und bedeutet das, dass das beste Deutschland dasjenige ist, das es nicht mehr gibt?
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*Und als Bonner kenne ich mich mit solchen Löchern aus!