Beim Nachdenken über Agnolotti

11. Oktober 2015
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Esskultur | Freiheit | Italianità und Deutschtum | Medien | Regionalismus

Agnolotti sind eine durchaus problematische Pastasorte. Diese piemontesische Teigware ist zwischen Ravioli und Tortellini anzusiedeln; sie zeichnet sich durch eine quadratische Form mit gezackten Rändern und einer rundlichen Erhöhung im Zentrum aus, in welcher die jeweilige Füllung ruht. Von verschiedenen Fleischsorten und Pilzen bis hin zu Gemüse kennt der Variantenreichtum keine Grenzen. Dabei existiert neben der Version im Montferrat und in der Langhe des südlichen Piemonts auch noch eine im Südwesten der Lombardei, namentlich in Pavia. Der Begriff „Agnolotto“ soll sich entweder vom lateinischen anellus (Ring) oder einem Koch aus dem Montferrat herleiten.

Um die Wissenschaft abzurunden: die Herstellung von Agnolotti gestaltet sich etwas einfacher als die von Tortellini oder Ravioli. So wird bei der Herstellung ein großer Teigstreifen ausgebreitet, dann mit Füllung bestrichen und ein weiterer darüber geklappt. Anschließend schneidet man aus diesem Teig die einzelnen Agnolotti heraus; Tortellini dagegen fertigt man stattdessen Stück für Stück an, eine Arbeit, welche früher eine gute emilianische Hausfrau auszeichnete und von Können, Beharrlichkeit und Fleiß zeugte.

Und während Ravioli durchaus auch mal mit Fasan oder Tomatensauce angerichtet werden, hat der allgemeine Agnolotto nur das Anrecht auf Butter und Käse, oder schwimmt in einer Suppe; letzteres war noch lange Zeit ein typisches Bauernessen großer Teile Norditaliens. Allgemein wurde dieses Essen als „Pasta in brodo“ bezeichnet, wobei die jeweilige Pasta der regionalen Gepflogenheit entsprach. Jede Region hat bis heute seine Pastasorte, und insbesondere die Älteren würden als Piemontesen keine emilainischen Tortellini, sondern höchstens Agnolotti in der Suppe annehmen.

Wieder einmal ist also das Essen Ausdruck der eigenen Identität. Und im Geburtsland des Campanilismo – jener „Glockenturmmentalität“, die nur bis zu den Grenzen des eigenen Dorfes schaut – gilt diese Unterstreichung umso deutlicher.

Die Einigung Italiens hatte jedoch wenigstens auf dem Schlachtfeld der Küche eine sehr positive Wirkung, da nunmehr eine große Anzahl von Sorten für den ganzen Stiefel verfügbar wurde. Dabei kam es auch zu Vermengungen: traditionell richteten die Norditaliener ihre Pasta nur mit Öl bzw. Butter und Käse an, durch den süditalienischen Einschlag gesellten sich aber auch die scharfen Soßen hinzu.* Wer sich einmal die alten „Don Camillo und Peppone“-Filme anschaut, wird eine Szene des emilianischen Peppone sehen, der im Zusammensein mit seinen Kindern sich Spaghetti in den Mund schaufelt, und diese mit mehr und mehr Käse überträufelt. Tomaten? Fehlanzeige. Auch Pesto blieb lange Zeit nur eine Sache der ligurischen Städte und Dörfer (abgesehen von einigen etwas verschiedenen sizilianischen Varianten).

Während aber die Nationalstaaten stets versuchten, durch Gleichmacherei die regionalen Unterschiede zu tilgen, hat die Küche ihre regionalen Eigenarten bis heute bewahrt und sogar neue Experimente beflügelt. In diesem Sinne bin ich auch kein Norditaliener, sondern „Italianer“; ohne Ressentiments kaufe ich emilianische Tortellini, toskanische Pappardelle und süditalienische Maccheroni. In unserer Gegend existiert meines Wissens nach keine eigene Variante, die als brescianisch geltenden Pastastücke der Casoncelli sind eher Richtung Bergamo verbreitet; überhaupt fällt auf, dass unsere Piatti (= „Teller“) eher fleischhaltig sind, was auf den langen Einfluss Veronas in unserem Gebiet hindeutet. Als Pasta gab’s bei uns dazumal standardmäßig „Tortellini in brodo“ (klassisch mit Parmesan obendrauf, was ich schon damals ausgesprochen unüberzeugend empfand) oder Penne. Penne sind für mich bis heute – noch mehr als Spaghetti – die „Standardpasta“ schlechthin geblieben.

Bei uns gab es dafür Pferd auf dem Tisch. Keine Pferdeköpfe, um Gerüchten an dieser Stelle zuvorzukommen. Auch da: veronesischer Einfluss. Oh, wie schön solche Gruselgeschichten später in der deutschen Grundschule bei den Mädchen ankamen… hehe.
Wenn die gewusst hätten, dass der traditionelle „Piatto“ Brescias aus Fleischspießen und kleinen Vogelköpfen mit Polenta bestand, hätte das wohl noch zu mehr Entsetzen geführt.

Entsinnen möchte man sich bei diesen kulinarischen Gegebenheiten auch der Tradition und Kontinuität, welche die italienische Küche mit den Jahrhunderten der Vergangenheit verbindet; das Wort Maccheroni stammt aus dem Griechischen Makaron, ähnlich der Lasagne, und lässt auf die einstige griechische Kolonisation Unteritaliens in der Antike schließen – wir gehen also hier mindestens bis ins alte Rom zurück! Ähnlich beim genuesischen Pesto, das wohl eine abgewandelte Form des alten römischen Garum ist, einer Paste, welche die Römer in Mengen ihren alten Gerichten hinzufügten.

Auf meine Vaterstadt zurückkommend kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Langobarden und Goten womöglich an der merkwürdigen Mischung aus gegrillten Singvögeln und Pferdefleisch nicht völlig unschuldig waren…

__________________
*Zudem ein verstärkter Gebrauch von Olivenöl, der bis dahin nur in einigen exklusiven Gebieten verbreitet war (so am Gardasee).

Teilen

«
»