Beim Kaufen der Agnolotti

12. Oktober 2015
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Esskultur | Ironie | Italianità und Deutschtum | Medien

Zurück zum eigentlichen Thema, nämlich den Agnolotti. Zuletzt suchte ich das Geschäft meines Vertrauens auf, genauer: Fabrik. Bei mir kommt frische Pasta direkt vom Erzeuger auf den Tisch, ohne Umwege. Der Hersteller hat dabei nicht nur eine sehr große Auswahl, sondern fertigt seine Produkte traditionell mit Bronzepresse an. Nicht handgemacht, aber für einen kleinen Produzenten durchaus ein bewährtes Verfahren. Der Vater des Besitzers hat die Pasta übrigens noch für die eigene Familie per Hand hergestellt.

Und jeder, der mal bei mir zum Essen eingeladen war, wird keine andere Pasta mehr essen wollen.

Normalerweise bedient mich dabei eine Dame mittleren Alters, wenn ich dort ankomme und klingele. Dieses Mal jedoch ein Kerl in meinem Alter.
Dieselben Augen.
Dieselbe Frisur.
Derselbe Bart.

Einzig die Nase weicht physiognomisch ab und geht eher in die toskanisch-semitische Richtung im Gegensatz zu meinem gallisch-cisalpinischen Gesichtserker-Modell.

Man beäugt sich. Nickt sich zu. Denkt sich wohl seinen Teil. Bleibt aber dennoch professionell.

Ich bestelle das Übliche: zwei Packungen Tortellini zu je 500 Gramm. Eine Packung Pappardelle, ebenfalls 500 Gramm. Und Maccheroni. 500 Gramm. Gut gelaunt notiert die Bedienung, und macht sich in den hinteren Bereich auf.

In der Abwesenheit fällt mir das Angebot für den September und Oktober auf. Agnolotti mit Kürbisfüllung (zucca). Eigentlich sind Tortelli di zucca (nicht Agnolotti! So viel Zeit muss sein) die Spezialität Mantuas. Und aus Veroneser Zeiten habe ich nicht das Ritual vergessen, mir sonntags aus Mantua handgemachte Pasta aus der traditionellen, kleinen Pasticceria zu holen.

Mit Butter. Salbei. Und einem Schuss Muskat. Abgerundet mit der Prise Parmesan.

Ferne Zeiten. Und es ist wirklich ein Elend, gute Tortellini zu bekommen; mit Kürbisfüllung noch ein größeres Problem. Dazu habe ich gewisse Zweifel, denn Tortellini sind nun einmal etwas kleiner und besser passend gemacht, als die vergleichsweise großen Agnolotti. Die Kunst bei den Agnolotti besteht daraus, dass der Teig ausreichend gut gekocht werden muss, sodass die Ränder nicht hart sind; andererseits darf die Pasta nie zu durchgekocht sein, weil dann der Kürbis seinen Geschmack einbüßt.

Da geht die Tür auf. Mein Ebenbild mit dem etwas schmaleren Gesicht und längerer Nase kommt zurück, und hat die Bestellung dabei. Jetzt muss ich bedauern: ich hätte noch gerne zwei Packungen von den Agnolotti di zucca. Man lächelt.
Vielleicht, weil die Mehrzahl der Kundschaft „Agnolotti“ (Anjolotti) nicht einmal richtig aussprechen kann.

Spätestens ab diesem Punkt erscheint die wichtigste Frage – neben der korrekten Zubereitung und deren Herausforderung – in meinem Kopf: ist der Kerl Lombarde? Und wenn ja, hoffentlich nicht aus Mailand. Nein, dafür wirkt er zu „provinziell“ (was in meinen Worten ein Kompliment ist, im Gegensatz zur allgemeine pejorativen Verwendung dieses Wortes).

Und zwangsläufig merken wir natürlich beide, dass jeder sich die Frage stellt, man es aber aus Höflichkeit vermutlich nicht wagt. Es kommen ja doch viele Leute vorbei. Aber, da ist diese Spannung in der Luft.

Die Agnolotti sind da. Ich bezahle. Man ist freundlich zueinander. Das Thema wird immer noch ausgeklammert, obwohl es sichtlich uns beiden unter den Nägeln brennt. Dennoch, ich wende mich um, und aktiviere dann völlig überraschend den Geheimcode.

»Arrivederci.«

Rumms. Der Damm bricht. Noch auf der Treppe hält er ein, dreht sich von oben herum, und meint »Sapevo che eri Italiano!« (»Ich wusste, dass du Italiener bist!«)

Ich bleibe in meiner Vatersprache: »Natürlich bin ich Italiener, und natürlich wusste ich, dass du einer bist. Schau dir mein Gesicht, schau dir deines an!«

»Woher kommst du?«

»Brescia!«

»Catania!«

Und schon redet man natürlich nur in Italienisch, fuchtelt mit den Händen rum, tauscht sich über Belanglosigkeiten aus, die für unsere Nation die Frage auf Leben und Tod darstellen (»Ballotelli oder Pirlo?«) und fühlt sich sofort zusammengehörig.
Ganz plötzlich.

Aber Herkunft hat ja – wie mich die Medien tagtäglich belehren – so gar keine Bedeutung…

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