Alvise Corner stammte aus einer der ruhmreichsten Familien Venedigs; aber weder war er Staatsmann, Feldherr oder Admiral wie andere seiner Verwandten und Vorfahren. Bis zu seinem 30. Lebensjahr lebte er das zügelloseste Leben eines Renaissancemenschen, das man sich nur denken mochte. Den Datteln, dem Honig, dem Marzipan und Zucker des Orients war er ebenso zugetan wie den fetten Braten und Pasteten an den Festmahltischen der Patrizier. Seine Leibspeise war der Crotignac, ein Gericht aus Mirabellenkonzentrat, mit Honig und Kakao umhüllt und Zucker glasiert. Hätte man im Lexikon unter dem Begriff Völlerei nachgeschlagen, dann wäre dort mit Sicherheit ein Verweis auf Alvise Corner gewesen.
Plötzlich schlug eine Krankheit in das Leben Alvises wie ein Blitz ein; und der Medicus äußerte in düsteren Worten, dass Alvise, wenn er sein Leben weiter so bestreiten mochte, keine zehn Jahre mehr zu leben hätte. Der Corner, schockiert über diesen Befund und an die Endlichkeit seines Lebens erinnert, verschrieb sich selbst eine strenge Diät. Den fetten Speisen entsagt er ganz, und mehr als einen halben Liter Wein trank er nicht mehr; überhaupt beließ er es oft bei einer Gemüsesuppe oder anderen kargen Speisen. Als der Künstler Tintoretto Jahre später sein Portrait malte, fragte er die Haushälterin nach seinen Essgewohnheiten, und die behauptete, Alvise Corner nehme nicht mehr als 12 Unzen (das sind 342 Gramm) Nahrung am Tage zu sich. Sein Lieblingsgetränk sei Traubensaft.
Jahrzehnte gingen ins Land, und obwohl der Corner auf die 70 Jahre zuging, sahen die Venezianer ihm dieses Alter nicht an. Im Gegenteil berichteten die Bauern von seinem Landgut, dass er sich gelenk und schnell wie ein Jugendlicher bewege; und während andere über Blindheit, nachlassenden Geruch- und Geschmackssinn, oder gar Taubheit klagten, sah Alvises Adlerauge Details, die selbst seine Neffen übersahen. Sein Gedächtnis war mit 80 Jahren noch so perfekt, dass er sich an Szenen seiner Kindheit erinnern konnte.
Seine Verwandten drängten ihn, endlich mehr zu essen, da er im Alter dürr und kränklich werden würde. Nur, weil sie ihn so bedrängten, willigte Alvise ein, zwei Unzen Nahrung mehr zu den üblichen zwölf zu mischen. Aber kaum hatte er das getan, da wurde Alvise neuerlich krank, hatte Fieber und fühlte sich einen ganzen Monat so elend, dass er zur alten Diät zurückkehrte.
Mit 90 Jahren verfasste er ein Buch über seinen Lebensstil, das bald große Bekanntheit in ganz Europa erlangte. Auch ein Fürst hörte von dem Corner, der sich mit beinahe 100 Jahren noch so lebendig anfühlte. Weil der Fürst keine Geduld hatte, setzte er Kutschen und Diener in Bewegung, und suchte nach dem Venezianer; nach Tagen fand er Alvise, gemütlich in einem Stuhl zurückgelehnt, auf seinem Landgut in den Euganeischen Hügeln. Der Fürst eilte ihm entgegen, und forderte:
»Mach, dass ich 100 Jahre alt werde!«
Der Venezianer hörte das und überlegte. Der Fürst aber wollte nicht warten, und unterstrich, dass er bereit sei, sehr gut zu zahlen. Alvise entgegnete, dass er selbst ein vermögender Mann sei, und ihm Geld nur wenig bedeutete; worauf der Fürst drohte, in der Scharlatanerie zu bezichtigen, da er augenscheinlich gar kein Geheimnis hätte.
Da seufzte der Corner und verschrieb dem Fürsten die harte Lebensweise, die er sich selbst auferlegt hatte. Das hörte der Fürst, bedankte sich, und eilte wieder nach Hause. Doch spätestens da bemerkte er, wie schwierig die Diät war, und wieviel Disziplin sie erforderte. Ungeduldig geworden nach einigen Tagen, weil er sich nicht besser fühlte, verschrieb er sich selbst noch härtere Maßnahmen.
Drei Wochen später kam wieder eine Kutsche bei Alvises Landgut an. Die Söhne des Fürsten stiegen aus, und machten dem Corner schwere Vorwürfe: ihr Vater sei mittlerweile verstorben!
Darob zuckte Alvise nur mit den Schultern und gab sich unschuldig:
»Non ha funzionato – es hat nicht funktioniert.«