Dieses Jahr ist ein ganz besonderes für die Schweiz. Vor 500 Jahren – und wenigen Tagen – jährte sich die berühmte Schlacht von Marignano. Und die Eidgenossenschaft begeht dieses Datum mit dem gebotenen Ernst, sehen doch nicht wenige darin den Beginn dessen, was wir heute Schweizer Neutralität nennen. In der heutigen Zeit, die Mythen der Mythen wegen dekonstruieren will, steht selbst diese Äußerung unter Generalverdacht.
Ich will an dieser Stelle nicht zu sehr auf die Argumentation von Maissen oder anderen Historikern eingehen, die aus einer historisch nicht einwandfrei zu klärenden Frage ein Politikum machten. Als mentaler Venezianer halte ich erst einmal zu meiner Partei, und als Lombarde sehe ich betroffen, wie andere über ihre Siege und Niederlagen auf „meiner“ Heimaterde vorzüglich debattieren können.
Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass ein weit größerer Historiker und Politiker als all jene Wichtigtuer, die ihre Hahnenkämpfe auf dem geschundenen Körper der Geschichte austragen müssen, bereits Marignano als Wendepunkt sah.
Die Rede ist natürlich von meinem Hausdämonen Machiavelli.
Machiavelli war ein großer Bewunderer der Schweiz. Sie war ein Ideal. Denn während in Florenz eine Republik bestand, die sich in Parteipolitik erging, wählten die Schweizer tüchtige Personen. Hier galt nicht der feudale Klüngel, nicht das Beziehungsgeflecht und auch nicht die Anbiederung an einflussreiche Personen – sondern einzig und allein die Leistung. Und anders als Florenz, das viel zu oft in die Abhängigkeiten äußerer Feinde gelangte, Frankreich Tribut zahlen musste oder auf Vasallenverhältnisse heruntergewürdigt wurde, wehrten sich die Schweizer gegen äußere Mächte.
Die Eidgenossen waren also nicht nur dem Namen nach frei, wie die meisten Republiken Italiens, die das Wort „Libertas“ im Wappen führten; innerlich frei und äußerlich unabhängig, so behauptete Machiavelli, besäßen die Schweizer eine „freie Freiheit“.
Die andere Bewunderung Machiavellis galt dem Militär. Die Eidgenossen waren die gefürchtetsten Söldner ihrer Zeit. Nicht nur in fremden Diensten errangen die Schweizer Siege, sondern auch für ihr eigenes Land. Man muss sich dabei vor Augen führen, dass die Schweizer die Hauptverantwortlichen für den Niedergang des Herzogtums Burgund waren, einer Großmacht, ranggleich mit Frankreich, Kastilien oder Österreich. Und dass die italienische Schweiz durchweg aus Eroberungen dieser Zeit besteht. Das Tessin galt lange Zeit als Untertanenland, ebenso das Valtellina – letzteres wurde erst mit der napoleonischen Eroberung 1797 wieder an die Lombardei angegliedert und ging dann im Königreich Italien auf.
Ein Umstand übrigens, der viele Bewohner der Provinz Sondrio und auch einige Graubündner bis heute etwas traurig stimmt…
Zurück zu Machiavelli. Aus seiner Bewunderung und seiner Angst machte er keinen Hehl. Er war überzeugt, dass die Schweizer irgendwann ein Reich schaffen würden, da sie dieselben Anlagen wie die Römer hätten. 1513, als die Schweizer die Franzosen vernichtend schlugen, jubelte Machiavelli, da er seine Theorie bestätigt sah. Die Franzosen wurden aus der Lombardei vertrieben und mussten sich über die Alpen zurückziehen. Die Schweizer setzten Massimiliano Sforza als neuen Herzog von Mailand ein.
In einem Brief an seinen Freund und Kollegen Francesco Guicciardini gerät Machiavelli im Zuge des Schweizerischen Erfolges in Ekstase: das sei nur der Anfang! Der Herzog ist eine Marionette der Schweizer, und mit den Reichtümern der Lombardei würden sie bald den Papst und die restlichen französischen Verbündeten in Norditalien vertreiben. Er sah Parma und Piacenza ebenso fallen wie die kleinen Fürstentümer Ferrara und Mantua. Ja, und wenn sie die erst hätten, dann seien auch bald die Florentiner vor die Frage gestellt, ob sie Feinde der Schweizer oder deren Verbündete würden. Darauf wandelt sich Machiavellis Theorie zum Horrorszenario: heute Italien, morgen die ganze Welt!
Als die Schweizer 1515 bei Marignano krachend gegen die Franzosen verlieren, wird es merkwürdig still um Machiavellis politische Vorhersagen.
Das ist deswegen so vielsagend, weil Machiavelli wohl danach schlagartig merkte, wie stark er sich verzettelt hatte, und dies durch Schweigen kaschierte. Deshalb: Marignano war entscheidend, weil sie das Ende der Schweizer Expansion bedeutete. Nie wieder eroberte die Schweiz außerhalb ihrer natürlichen Grenzen Territorien. Nie wieder brachen fremde Heere in Panik aus, wenn die Nachricht von den Heerhaufen die Soldaten auf dem Feld erreichten.
Gerade hier übersehen die Kritiker der Neutralitätsthese die Wende; denn ohne diesen extremen Dämpfer hätte es vermutlich keine vorzeitige Konsolidierung gegeben. Die Schweizer besannen sich auf ihr Territorium. Die Reformation und die Zwistigkeiten innerhalb des Bundes taten ihr Übriges. Natürlich boten sie weiter ihre Dienste an; aber die große Zeit war vorbei, und auch im Ausland, wo Feuerwaffen immer mehr das Infanteriemodell der mit Piken bewaffneten Schweizer Heerhaufen ablöste, ging die Nachfrage nach Schweizer Söldnern zurück. Kriege führte die Schweiz bis Napoleon keine, eben weil es danach von Frankreich mit Verträgen gebunden wurde.
Insofern ist Marignano ein bedeutender Schritt Richtung Neutralität. Marignano ist der Beginn von „Etwas“. Da kann man drehen und wenden, was man will.
Ganz abgesehen davon, dass jede Nation ein Recht auf ihre Mythen hat, auch, wenn das insbesondere einige Leute außerhalb der Schweiz gar nicht gerne hören.
Was ist aber der eigentliche Grund, dass ich mich mit diesem Kapitel auseinandersetze? Wie so oft: die unerzählte Geschichte. In all diesem Gezänk um Marignano geht verloren, dass neben den Schweizern und Franzosen an diesem Tag auch die Venezianer auf dem Feld standen. Und jemand, der sich wenig mit den Italienischen Kriegen auskennt, wird sich zu Recht fragen: was suchen die eigentlich dort?
Die Schlacht von Marignano war die letzte Schlacht jener Abfolge von Konflikten, die als „Krieg der Liga von Cambrai“ bekannt ist. 1509 überfallen Österreich, Aragon, der Papst und Frankreich – kurz: alle bedeutenden Mächte Europas – zugleich die Handelsrepublik, um sie unter sich aufzuteilen. Österreich fordert Venetien und das Friaul; Aragon greift nach den venezianischen Häfen in Apulien; der Papst will die venezianische Romagna dem Kirchenstaat einverleiben; und Frankreich fordert das Erbe Valentina Viscontis, der Großmutter des französischen Königs Ludwigs XII. Die Visconti hatten einst das Herzogtum Mailand beherrscht, zu dem auch Bergamo, Crema und Brescia gehörten. Seit dem 15. Jahrhundert allesamt Teile der venezianischen Republik.
Es ist dann auch Frankreich, dass diese in Cambrai geschlossene Liga gegen Venedig anführt; es ist Frankreich, dass Venedig in Agnadello vernichtend schlägt; es ist Frankreich, dass Brescia, Bergamo und Crema besetzt, und dem Habsburger Maximilian I. dabei hilft, Verona zu erobern. Venedig verliert den größten Teil seiner Terraferma, und nur noch die Lagune scheint die Hauptstadt selbst zu schützen. Frankreich, einst der Hauptverbündete Venedigs, wird zum Hauptfeind.
Ein jahrelanges Ringen beginnt. Die Venezianer versuchen neue Truppen aufzubauen, setzen Guerilla-Taktiken ein. Man treibt den Papst aus der Koalition und verbündet sich mit ihm. Man bringt Maximilian zu einem Waffenstillstand. 1513, als die Schweizer dann in Novara gegen Frankreich gewinnen, vergessen die einstigen Verbündeten aber ihre Zusagen: Venedig soll weiterhin geteilt bleiben. Der französische König und die Venezianer nähern sich wieder an. Der neue König Franz I. verspricht den Venezianern, ihnen alle ihre Besitzungen wiederzurückzugeben, wenn sie ihm gegen den Papst, die Schweizer und Österreicher helfen.
Daher helfen die Venezianer Frankreich bei dieser Entscheidungsschlacht bei Marignano. Für Venedig steht die Rückeroberung seines Territoriums auf dem Spiel. Immer noch sind venezianische Städte französisch besetzt, als „Faustpfand“. Und in Verona, der wichtigsten Stadt im Nordosten, halten sich immer noch kaiserliche und spanische Truppen. Nachricht erreicht das Feldlager, dass die Franzosen und Schweizer sich südlich Mailands zur Schlacht treffen werden. Daraufhin setzt sich die venezianische Kavallerie schleunigst in Bewegung.
Der Anführer? Bartolomeo d’Alviano. Der Mann, der 1509 gegen die Franzosen eine katastrophale Niederlage erlitt, führt nun 10.000 Männer heran, um 1515 den Franzosen zur Hilfe zu eilen. Mit 2.000 Reitern prescht er voran. Als die Kavallerie eintrifft, kämpfen Schweizer und Franzosen bereits seit einem Tag; die Schweizer sind bereits tief in die französischen Stellungen eingebrochen, müssen aber den Kampf der Dunkelheit wegen abbrechen.
Am Morgen des 14. September schallt der Ruf „San Marco!“ über die tiefgrüne lombardische Weite. Die frischen venezianischen Truppen stürmen in die Schweizer Reihen. Die Eidgenossen, die sich noch am gestrigen Tag siegessicher gaben, reagieren überrascht und teilweise panisch. Zwei Stunden später müssen sich die Schweizer zurückziehen.
Um einen historischen Vergleich zu bemühen: Bartolomeo d’Alviano war der Gebhard Blücher Venedigs.*
Damit kommen die Kriege der Liga von Cambrai zum Ende. Sie begannen mit dem Überfall auf Venedig unter der Federführung Frankreichs, und enden mit dem Sieg dieser beiden Mächte über alle anderen Parteien. Veränderungen in Italien gibt es keine. Weder kann Frankreich aus Italien vertrieben werden, noch kann Österreich Fuß fassen – und besonders hat sich Venedig als Stützpfeiler der Italienpolitik bewährt, obwohl es um 1510 noch dem Untergang nahe war.
Die Folgen der Schlacht sind somit auch für Venedig die bedeutendsten: bis auf wenige Ausnahmen bekommt die Republik alle Territorien restituiert, und behält diese ausnahmslos bis zu ihrem Ende 1797. Frankreich dagegen erobert zwar kurzfristig das Herzogtum Mailand, verliert es aber nur Jahre später wieder an Karl V. Dennoch spielen die venezianische Beteiligung und auch der venezianische Anteil am Sieg keine Rolle.
Eigentlich müsste Marignano nicht in der Schweiz, sondern auf dem Markusplatz gedacht werden. Aber wo kein Gastgeber, da kein Fest.
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*Und wie immer bleibt der Dank der Verbündeten aus, die am Ende natürlich behaupten, sie allein hätten den Sieg errungen.