In den Jahren, in denen sich Adenauer nach seiner langjährigen Kanzlerschaft auf den Rhönberg zurückgezogen hatte, suchte ihn ein junger Journalist auf. Der Alte lud ihn zum Gespräch ein, und natürlich nutzte der junge Mann die Gunst der Stunde, die brennendste Frage von allen zu stellen: nämlich, was der ehemalige Bundeskanzler für seine größte Leistung halte.
Adenauer hielt sich bedeckt. Ganz rheinischer Katholik, der er war, wollte er sich nicht selbst loben. Aber der Journalist ließ nicht locker. Die Stabilität der Bundesrepublik, das war es doch, was sie von Weimar unterscheide, in der Krise auf Krise gefolgt sei; doch Adenauer verneinte. Und was war mit der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen? War das nicht sein größter Coup, der ihm die absolute Mehrheit bei den Wahlen gebracht hatte?
Auch das nicht, meinte Adenauer.
Der junge Mann beugte sich vor, sichtlich ungeduldig geworden. War es der materielle Wohlstand, die neue wirtschaftliche Bedeutung Deutschlands, so kurz nach dem Krieg? Die Freundschaft mit Frankreich? Die Westintegration?
Adenauer antwortete nicht direkt, sondern erkundigte sich stattdessen, ob der Herr nicht lieber etwas zu trinken haben wolle. Die vielen Fragen hätten ihn doch sicherlich durstig gemacht. Da kapitulierte der junge Mann, und wollte gehen.
Erst jetzt meinte Adenauer, dass sich der Journalist mit seiner Hartnäckigkeit genug bewährt hätte, und antwortete. Dass die Deutschen wieder stolz sein könnten, nach all den schlimmen Dingen, die nur zwanzig Jahre früher passiert waren, das halte er für seine größte Leistung. Der materielle Reichtum sei zwar eine schöne Nebenerscheinung, aber wichtiger sei das Selbstbewusstsein, das so nach Kriegsende nicht denkbar gewesen wäre.
Da stockte der Journalist, so lange, dass Adenauer beiden einschenken und trinken konnte. Danach aber widersprach der junge Herr umso heftiger: ob das denn nicht gefährlich sei, wenn man bedenke, wohin das deutsche Überlegenheitsgefühl geführt habe; ob das nicht wieder der Schoß neuen Unheils sein könne; und ob Nationalstolz überhaupt heilsam sei in einem zusammenwachsenden Europa.
Da lächelte der Alte und sprach:
»Sie haben gar nichts verstanden. Die Deutschen haben so viel Leid in die Welt gebracht, nicht weil sie sich stolz – sondern weil sie sich minderwertig fühlten.«