In den Tagen der frühen Christen lebte ein heiliger Mann aus Antiochia, der dem Apostel Petrus bis nach Italien gefolgt war. Sein Name war Apollinaris, und überall wo er auftrat, sammelte er neue Anhänger und taufte sie im Namen des Herrn. Petrus setzte Apollinaris bald als ersten Bischof in Ravenna ein, wo er sein Wirken fortsetzte. Eines Tages traf er dabei auf Götzenbilder der Heiden; die waren sehr schön und aus Gold und Silber. Und Apollinaris wandte sich an die Gläubigen und sagte: »Die Römer verehren nicht ihre Götter, sondern nur diese bloßen Bilder. Sie sehen nicht, was dahinter ist. Für sie ist das Materielle greifbar, und deshalb wertvoller.«
Die Ravennaten waren daher von seinem Missionswerk weniger angetan: eines Tages fanden die Christen ihn halbtot am Strand, an einem anderen seinen Körper mit Messern durchstochen. Wieder ein anderes Mal verbrühten seine Gegner die Wunden mit siedendem Wasser und schlugen ihm mit Steinen den Mund aus, damit er nicht mehr predigen konnte. In Classis, dem großen Kriegshafen Ravennas, fanden ihn die Christen an einem Sommermorgen im Sterben, da man ihn brutal zusammengeschlagen hatte. In seinen letzten Worten verkündete er den späten Triumph der Kirche.
Dreihundert Jahre später erfüllte sich die Prophezeiung und das Römische Reich machte das Christentum zur Staatsreligion. Mehr noch: Ravenna, der Bischofsitz von Apollinaris, wurde Kaiserresidenz. Ravenna, das in einer Lagune lag, unangreifbar schien und damit besser geschützt als Rom, stieg neben Konstantinopel zur schönsten Stadt des Mittelmeeres auf. Die weströmischen Kaiser bauten den Kriegshafen von Classis zur prächtigsten Marineanlage ihrer Zeit aus. Nochmals vergingen zweihundert Jahre, und unter dem großen Kaiser Justinian wurden die prachtvollsten Kirchen außerhalb Konstantinopels und Roms errichtet: das waren San Vitale, dort, wo der Kaiser sich selbst feierte; und Sant’Apollinare, dort, wo man den ersten Bischof Ravennas feierte.
In einem wunderschönen Mosaik lebte Apollinaris von da an in einem Paradies, zwischen Schilf, Bäumen und Vögeln und sah auf die Jahrhunderte herab. Über ihm der Himmel und das Kreuz, zu seinen Seiten die Nachfolger, die sein Werk fortsetzten. Die prächtige Basilika aus Ziegelstein strahlte über die Lagunenwasser und spiegelte sich darin. Dort, in Classis, wo Apollinaris einst am Strand gestorben war.
Die Jahrhunderte gingen vorbei. Der mächtige Hafen versandete. Die Schiffe wurden abgezogen. Wo einst Lagunenwasser schimmerte, wuchsen bald Felder. Classis verfiel. Bald sah sich die alte Basilika, die im Stadtzentrum stand, von Ruinen umringt. Ruinen, die zusammenstürzten. Abgebrochen wurden. Die Schilfe überwucherten. Das stolze Classis war nur noch ein Dorf. Eine Erinnerung. Dann gar nichts mehr.
Von all der Herrlichkeit im Lagunenwasser blieb nur noch die Basilika in all ihrer Pracht. Sie strahlte auf Meilen hinaus; bis hin zum Meer, das sich um Meilen verschoben hatte; bis nach Rom und Mailand, ja, sogar darüber hinaus. Denn immer noch hörte man von dem schönen Mosaik von Apollinaris im Paradies, der dort endlich zur Ruhe nach all der Qual fand. Und Menschen aus dem Norden pilgerten dorthin; Künstler nahmen sich ein Beispiel; und selbst jene, die keinen Glauben hatten, bewunderten das ehrwürdige Alter des Baus, die Marmorsäulen, das Licht, das durch die Fenster reinstrahlte und die Mosaike. Architekten aus England ahmten es nach, Maler aus Frankreich inspirierten sich daran, und Leute, die sich für sehr wichtig hielten, stellten die Basilika auf eine hochwichtige Liste, weshalb sie unbedingt zu beachten und zu erhalten sei. So kamen über Jahrhunderte viele Leute an den Ort, wo Apollinaris einst starb, auch, wenn sie von Apollinaris nichts wussten. Denn immer noch spürte man an diesem Ort etwas, das andere Orte nicht hatten, etwas „dahinter“.
Manchmal holte man auch etwas aus der Basilika raus. So die Herren von Malatesta, die den Marmor mitgehen ließen, um ihr eigenes Denkmal zu errichten. Oder auch einige Mönche, die Reliquien des Apollinaris bis nach Remagen für ihre eigene Apollinariskirche mitnahmen. Später hatte Apollinaris dann einen Vertrag mit Mineralwasserherstellern, und noch später mit Coca-Cola (aber das ist eine ganz andere Anekdote).
Eines Tages kam eine alte Frau aus dem 21. Jahrhundert mit ihren Sohn zur Apollinariskirche. Weil aber nach Jahrhunderten sich niemand mehr um sie sorgte, und weil sie auf dieser wichtigen Liste stand, verlangte man am Eingang Eintrittsgeld. Zur Instandhaltung.
Fünf Euro.
Der Sohn, der seine Mutter bis nach Classe, an den äußersten Stadtrand Ravennas gezogen hatte, versuchte sie zu überzeugen, doch reinzugehen. Aber die alte Frau wehrte sich, interessierte sich auch nicht weiter und meinte, dass fünf Euro zu viel seien für ein paar alte Steine. Sie würde draußen auf ihn warten. Der Sohn seufzte.
Der Romantiker vernahm das Gespräch, legte zehn Euro auf den Tisch der Kassiererin, und ging in die Apollinariskirche, um das schöne Mosaik und die Dinge dahinter zu schauen – in der Hoffnung, dass die alte Dame von ihrem Götzenbild ließ und folgte.