Die letzten Früchte des Obstkorbs faulen bereits an, und so löse ich ein altes Versprechen ein, das ich mir vor längerer Zeit selbst gegeben habe.
Im Spätsommer 2011 muss es gewesen sein, dass ich zum ersten Mal Chioggia erreichte. Ein warmer Septembertag; golden wie der Herbst, heiß wie der Sommer. Auf der Lagune schimmerte das Licht, und Myriaden von Möwenschwärmen flatterten über einsame Holzpflöcke, die sich verstreut aus den Wellen hoben. Mitten hindurch führte über Kilometer jene dammgleiche Straße, die auf diese vergessene Lagunenstadt hinzuführte… die so ganz im Schatten Venedigs (sogar Grados) verschwunden und vergessen war.
Die Saison war vorbei. Die Stadt ruhig. Die Gerüche von Salz, Fisch und dem angenehmen (!) Muff morastiger Kanäle hüllten die Insel, ihre Brücken und kleinen Palazzi in allgegenwärtigen Meeresduft. Weit, hinten in der Ferne lag das Meer. Es war ein Tag, der taumeln machte; so voller Schönheit, so voller Harmonie.
Es war das erste Mal, dass ich Time von Hans Zimmer hörte. Und ich glaube, nur wenige Augenblicke meines Lebens hätten so dazu gepasst, wie die Fahrt in die Weiten der Lagune, in diesem Traum von glitzerndem Gold; Meeresgeruch; staubigschönen Steinen unter den Füßen; Booten und ewigreinblauem Meer dahinter.
Wenige Tage zuvor hatte ich mir den Soundtrack zu Inception in Verona gekauft. Auf dieser Fahrt nach Chioggia hörte ich ihn zum ersten Mal vollständig.
Und ich befand, ihn zurückzulegen, nicht zu verwenden, da nur dieses eine Stück so groß, so wunderbar war, dass ich mir die CD für jenes Projekt zurückhalten wollte, mit dem ich es verband. Denn der Geruch von Chioggia brachte mich auf den Gedanken, dass man Farben riechen könne; dass nicht nur eine Stadt, sondern ihre Farbpigmente einem als Aromen in der Nase zurückblieben. Dass ich nicht das grünschlammige Seegras roch, sondern schlammiges Grün; dass der staubige Unterton zwischen dem Mörtel der rötlichen Ziegeln jener Basilika hing, die aus der römischen Epoche, der Christianisierung durch Konstantin, einer Zeit vor eintausendsechshundertfünfzig Jahren stammte; und dass goldenes Wasser eine Süße enthielt, das dem Salz die Schärfe nahm.
Ich wusste, dass eines Tages, wenn die Sache gereift war, ich diese Musik wieder hören wollte, um damit zu arbeiten – und gegen Ende meines Werkes nach Chioggia zurückkehren würde.
Es fehlen nunmehr 3 letzte Szenen, um dieses Projekt zu beenden. Mich trieb nichts, ich ließ mich treiben; statt die kürzeste Route über Padua zu wählen, fuhr ich über Vicenza, und nahm die neu eingeweihte A31 in Beschlag – jungfräulich, kaum befahren. Außer mir vielleicht ein Dutzend Wagen. Eine angenehme Fahrt mitten durch Venetien, zur linken die Euganeischen Hügel, zur Rechten die Weite der grünen Felder, unterbrochen von Glockentürmen, Kanälen und winzigen Landstraßen. Von dort nach Rovigo; und erst dann nach Chioggia.
Im Grenzgebiet Rovigos, Paduas und Chioggias fuhr ich fernab der Hauptadern über Wege, dammgleich erhöht, nur anderthalb Autos breit, von Pappeln gesäumt. Dorf reihte sich an Dorf. Bauernhof an Bauernhof. Ab und an Kirchen. Oftmals führte die Straße am Wasser vorbei. Alte Relikte einer Zeit, in der noch der Löwe dieses Land beherrschte; und dessen altes Banner oft die Häuser und Straßenzüge säumte.
Jedes Mal, wenn ich Venetien durchfahre, entdecke ich meine Liebe zu dieser Region aufs Neue. Die immergrünen Felder. Die Berge in der Ferne. Und das goldene Meer. Dazu der See, der an meinen eigenen Geburtsort grenzt, so ganz anders, wie jede Stadt in diesem Land, die ihren eigenen Charme, ihren eigenen Stil, ihre eigene Geschichte besitzt.
Selbst die großen Städte sind mit ihren 100.000 bis 250.000 Einwohnern „provinziell“ – zum Glück. Das ist der Grund, weshalb Venetien seine Identität behalten hat; eine Identität, die man auf dem Land umso lebendiger antrifft. Vieles scheint sich seit den 70ern nicht verändert zu haben. Im Gegenteil: viele besinnen sich mehr denn je auf die Vergangenheit zurück.
Noch gestern musste ich in der FAZ lesen, was es für ein Privileg sei, in Deutschland geboren zu sein, bzw. in Europa. Diese einstmals linksextreme Sicht der Dinge, die mittlerweile fester Bestandteil der Medienlandschaft zu sein scheint, beruht auf der Annahme, dass Geburt, Kultur, Religion und Geschlecht nur Zufall sind. Zahlenspiele der Wahrscheinlichkeit. Frei nach dem Motto Dawkins, dass man, wäre man in Indien geboren, mit großer Wahrscheinlichkeit Hindu sei und kein Christ.
Theorien. Theorien. Theorien. Was für eine Rolle spielt das in einem einmaligen Leben? Und wieso soll es sich überhaupt lohnen, dies als Argument nur in frage kommen zu lassen?
Ich bin nun einmal in Italien geboren, und habe daher einen natürlichen Hang zu meiner Heimaterde. Das ist das natürlichste von der Welt. Man spricht nicht umsonst von „Wurzeln“ – einem Vergleich aus der Natur. Das Eigene liegt näher. Und oft sieht man dort Schönheit, wo andere Gestank, Müll, oder schlechtes Wetter sehen, weil es das Eigene ist. Eine Mutter liebt ihr Kind, selbst wenn es hässlich ist.
Während anderswo Heimat, Religion, Familie, ja sogar das Geschlecht relativiert wird, scheint hier die Zeit – womit wir wieder bei Time wären – stehen geblieben. Aber: Geschichte, das ist kein Ende, das ist kein Stillstand, das ist auch kein Wandel; das ist Kontinuität. Das ist die Fortführung dessen, was Eltern, Großeltern, Urgroßeltern getan haben. Das ist kein Wechsel, kein Ende der Geschichte, kein Fortschritt.
Kontinuität ist die Balance mit dem Ganzen. Sie ist das Gegenteil von Selbstaufgabe oder der Selbstverleugnung der Wurzeln. Wie bei der Basilika von Chioggia, deren spätantiker Römerduft noch immer in den Ritzen hängt – und nicht vergeht…