Der Untergang der Republik Venedig als Lehrstück der Geschichte (I)

12. Mai 2015
Kategorie: Der Untergang der Republik Venedig als Lehrstück der Geschichte | Freiheit | Historisches | Machiavelli | Philosophisches | Regionalismus | Venedig | Zum Tage

Venedigs Ende begann mit einem Kriegsverbrechen. Ohne Kriegserklärung, ohne Befugnisse vom französischen Direktorium und ohne Zustimmung der venezianischen Behörden marodierten die Soldaten Napoleons in der venezianischen Lombardei. Am 12. Mai 1796, genau ein Jahr vor dem tatsächlichen Untergang der Serenissima, ließ der venezianische Senat deshalb die Wehrfähigkeit seiner Verteidigungskräfte in der Terraferma, dem Festlandbesitz Venedigs in Norditalien, überprüfen. Der Bericht fiel desaströs aus: die Forts waren vernachlässigt worden, es fehlte an Munition.

Seit Frühlingsbeginn führte Napoleon Bonaparte eine ausgedehnte Kampagne gegen Österreich und seinen Verbündeten, das Königreich Sardinien. Schon kurz nach Ausbruch der Französischen Revolution hatten Korps der radikalen Jakobiner die sardischen Provinzen Nizza und Savoyen besetzt. Im April überquerte Napoleon die Alpen und brachte den österreichisch-sardischen Truppen verheerende Verluste bei. Das Ziel: die Eroberung des Piemonts und Turins (der Hauptstadt des Königreichs Sardinien) sowie des österreichischen Herzogtums Mailands und Mantuas mit ihren schweren Befestigungen. Wer die Mauern und Türme dieser lombardischen Städte in der Hand hatte, der war nicht mehr aus Italien zu drängen.

Der Erfolg der Franzosen war verheerend für die österreichisch-sardische Koalition. Bereits am 23. April schied Sardinien nach der verlustreichen Schlacht von Mondovì aus dem Bündnis aus. Napoleon zwang den König zum Frieden von Cherasco, als französische Soldaten bereits in Sichtweite Turins lagerten. Nachdem das Piemont befriedet war, zog er weiter gen Mailand. Der dortige Gouverneur, Erzherzog Ferdinand von Österreich (der spätere Kaiser Ferdinand I.) musste mit Familie und Hof aus Mailand fliehen und suchte im benachbarten, venezianischen Bergamo Zuflucht. Ihm folgte ein Strom aus loyalen Adligen, Anti-Revolutionären und Kriegsflüchtlingen, deren Grundlagen im Krieg zerstört worden waren. Desertierende Soldaten der kaiserlichen Armee stellten die öffentliche Sicherheit vor immense Probleme.

Die Venezianer hatten also allen Grund, ihre militärischen Fähigkeiten zu überprüfen. Der Auszug Ferdinands aus Mailand hatte am 9. Mai, nur drei Tage vor dem Senatsbericht, stattgefunden. Rein diplomatisch musste sich Venedig nicht fürchten: die Serenissima verfolgte einen strengen Kurs der Neutralität. Schon in den vielen Kriegen am Beginn des Jahrhunderts – wie im Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg, sowie im Siebenjährigen Krieg – hatte sich die Lagunenstadt nicht eingemischt. Überhaupt: abgesehen von Militäroperationen gegen die Korsaren an der nordafrikanischen Barbareskenküste hatte man seit dem letzten Großen Türkenkrieg von 1714-1718 keine größere militärische Auseinandersetzung gesucht. Besonders nicht an Land, wo man es nur bei einigen Mindestgarnisonen beließ.

Die Republik setzte darauf, in Kriegszeiten Söldner anzuwerben. Wirtschaftlich stand es nämlich um Venedig – den vielen Mythen zum Trotz – nicht schlecht. Der Handelsumsatz war zwar seit dem 17. Jahrhundert kollabiert, aber die Erwerbe aus Produktion und Landwirtschaft waren sehenswert. Venedig galt um 1800 eben nicht mehr als eine klassische Handelsrepublik, sondern als ein großer Exporteur von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, wofür die Landgewinnung im 18. Jahrhundert und die großangelegte Erschließung durch Landgüter verantwortlich waren. Ähnlich verhielt es sich mit der Produktion: Venedigs Bedeutung auf den Feldern der Seidenwebkunst, Tuch-, Papier- und Buchproduktion, der Herstellung von Musikinstrumenten und der Teppichknüpferei waren Stärken, die europaweit ihresgleichen suchten. Die abgeführten Steuern der wichtigsten Städte der Terraferma – Brescia, Verona, Padua – waren weiterhin beachtlich.

Auch das kulturelle Leben der Lagunenstadt hatte seinen Anteil am Wohlstand der Serenissima. Die exzessiven Karnevalsfeiern brachten den Ruch der Dekadenz mit sich. Allerdings war Venedig bereits damals wie heute zu einer Touristenstadt geworden. Ein Besuch junger Adliger gehörte auf ihrer Grand Tour durch Europa zum Pflichtprogramm – wo sie Teile ihres Vermögens beim Casino-Besuch, der Inanspruchnahme von Kurtisanen oder bei Festen verjubelten. Der venezianische Händler hätte gesagt: früher brachten wir die Waren zu euch. Jetzt kommt ihr stattdessen zu uns, und lasst eure Kohle gleich hier.

Venedig war demnach kein dahinmodernder, dekadenter Staat, wie ihn die spätere – vor allem österreichisch beeinflusste – Geschichtsschreibung darstellen wollte. Dennoch war klar, dass eine kleine Republik weder gegen das gewaltige Österreich, noch gegen die entfesselten Kräfte der Französischen Revolution bestehen konnte. In seinen besten Zeiten konnte das venezianische Heer 30.000 bis 40.000 Mann aufbieten. Soviel setzten die Großmächte mit ihren hunderttausenden von Soldaten in einzelnen Schlachten ein. Auf beiden Seiten.

Hätte Venedig daher eine andere Politik fahren können, als die der Neutralität? Eine schwierige Frage. Venedigs politisches System war zwar ein republikanisches, aber eben keines vom Schlage der radikalen Jakobiner Frankreichs. Denen war die Republik eben immer noch nicht republikanisch genug. Und Österreich? Man unterhielt gute Beziehungen, doch hatte man noch auf vergangenen Friedenskongressen besprochen, ob man Venedig nicht genauso aufteilen könne wie Polen. Überlegungen, Frankreich die österreichischen Niederlande – sprich: das heutige Belgien und Luxemburg – zu überlassen, wogegen Österreich die Republik hätte annektieren dürfen, um damit eine Verbindung zum ebenfalls österreichischen Mailand zu schlagen… existierten bereits vor 1797.

Die Signoria spielte daher auf Zeit. Man wartete ab, wie sich die Dinge entwickelten, was womöglich am Anfang die einzig richtige Entscheidung war. Obwohl die Serenissima eher Interesse an einem konterrevolutionären Bündnis hätte haben müssen – Frankreichs Umpolung von Untergebenen in französische „Tochterrepubliken“ nach jakobinischem Vorbild war bereits offensichtlich – spielten die militärischen Siege Napoleons Frankreich in die Hände. Auch das ist der Grund, warum Venedig auf ein Allianzangebot Napoleons nicht einging; man hatte bereits gesehen, wie Frankreichs „Verbündete“ endeten. Ein Schulterschluss mit dem Kaiser wäre dagegen einem Selbstmord gleichgekommen. Schließlich stand der Korse mit 55.000 Männern direkt an der venezianischen Türschwelle Bergamos.

So blieb es denn auch nur bei einem „formalen Protest“ vonseiten des Senats, als die französischen Soldaten den österreichischen Truppen ins venezianische Territorium nachjagten. Die letzten Schlachten des napoleonischen Italienfeldzugs lesen sich daher wie eine touristische Rundreise durch das Gebiet der alten Republik: am 3. August kommt es zur Schlacht bei Lonato am Gardasee, nur wenige Meilen von der venezianischen Regionalverwaltung in Salò entfernt. Am 5. August haben die Kriegsparteien so viel Anstand, sich wenigstens ein paar Meilen weiter in das mantuanische Castglione zurückzuziehen, und dort ihre Streitereien auszufechten. Nur einen Tag später, am 6. August, sind sie wieder am Gardasee, und liefern sich ein kleineres Gefecht beim venezianischen Peschiera. Danach geht es tief ins venetische Herzland: zuerst nach Rovereto zwischen Riva und Verona, dann bis nach Bassano nördlich von Vicenza; es folgen Caldiero, Rivoli, und Arcole.

Alle Schlachten werden zwischen den kaiserlichen und den französischen Truppen geschlagen; alle Schlachten finden auf venezianischem Territorium statt; alle Schlachten gehen für Österreich verloren.

Wir führen uns vor Augen: zwei Großmächte tragen ihren Krieg auf dem Rücken eines neutralen Landes aus. Verträge, Neutralitätsbekundungen, die Diplomatie in ihrer gesamten Dimension und auch jedwedes Ehrgefühl von Nationen wie Personen werden mit Füßen getreten. Übrig bleiben in der Geschichtsschreibung nur die Glorie Napoleons, sein ruhmreicher Sieg von Arcole und dessen heroischer Einsatz auf der dortigen Brücke. Wer behauptet, Geschichte werde nur von den Siegern geschrieben, hat nur teilweise Recht: sie wird vor allem von Wenigen geschrieben. In den großen welthistorischen Umwälzungen erscheint die tausendeinhundertjährige Geschichte der Serenissima nur als Fußnote, die zwischen den Seiten des Buchs der Großmächte zerquetscht – und auf den Schlachtfeldern in Form der venetischen Muttererde buchstäblich zertreten wird.

Aber es bleibt nicht bei dieser Demütigung. Dabei sind es zuerst die Österreicher, nicht die Franzosen, die von den Venezianern fordern, ihre Festungen den abziehenden Truppen zu übergeben, um damit den französischen Vorstoß aufzuhalten. So fordert der habsburgische General Beaulieu die strategische Hafenstadt Peschiera, bevor die Franzosen die Österreicher stellen könnten; die Republik reagiert darauf (verständlicherweise) nicht, worauf die überlegene Streitmacht Peschiera mit Gewalt nimmt. Die Franzosen besetzen daraufhin auf der anderen Seite des Sees den gleichermaßen wichtigen Hafen Desenzano. Frankreich kommt dieses Spiel gelegen: Napoleon wirft den Venezianern vor, sie hätten den Österreichern Peschiera freiwillig überlassen und droht mit der Zerstörung Veronas und offenem Krieg. Die Venezianer können nicht anders, als klein beizugeben. Wieder hofft man, durch Zeitverzögerung wenigstens etwas Luft zu bekommen.

Am 1. Juni muss der Provveditore von Verona seine Stadt zähneknirschend an die einmarschierenden Franzosen übergeben. Verona ist die strategisch bedeutendste Stadt der Terraferma: von hier aus werden die wichtigsten Straßen von Nord nach Süd, und von West nach Ost kontrolliert. Wer Verona in Händen hält, kann den Alpenverkehr kontrollieren – und damit die Truppenbewegungen von und nach Tirol bzw. Deutschland. In der Hauptstadt schrillen die Alarmglocken. Obwohl man offiziell versucht, mit allen Parteien auszukommen, bereitet der Senat die Mobilmachung der Flotte vor. Man will Sondersteuern erheben, bittet die reichsten Patrizier um Spenden (die übliche Vorgehensweise zur Kriegsfinanzierung). In Istrien sollen Milizen mobilisiert werden, und ein Dekret wird wiederbelebt, dass keine fremden, bewaffneten Schiffe die Lagune befahren dürften.

Doch das Manöver misslingt. Der französische Botschafter unterrichtet Paris von den Vorgängen. Das Direktorium verlangt Antworten und droht erneut mit Krieg. Venedig, das seine Anstrengungen gerade erst begonnen hat, sieht diese innerhalb von Tagen vernichtet. Der Feind steht nun nicht nur vor der Türe, er hat die wichtigste Stadt auf dem Festland unter seine Kontrolle gebracht, und weder die Marine noch das Heer sind bereit.
Erneut rudert Venedig zurück.

Der Provveditore Giacomo Nani, der zuständige Aufseher für die Verteidigung der Lagune, der zu diesem Zweck berufen wurde, brachte die Vorgänge auf den Punkt:

»Es tötet meine Seele, mit anzusehen, dass nur ein Jahrhundert nach dieser so wichtigen Epoche [gemeint sind die großen Kriege Venedigs gegen die Osmanen] das ganze Trachten Eurer Exzellenzen allein auf die Verteidigung dieser Flussmündung [d. h. die Lagune] gerichtet ist, ohne daran zu denken, Eure Bemühungen nur auf eine Linie außerhalb desselben zu lenken.«

Was Nani damit meinte: Eure Kurzsichtigkeit ist bereits so sehr auf die Hauptstadt und eure eigene Sicherheit in Venedig gelenkt, dass ihr uns damit alle dem Untergang preisgebt. Statt bereits in Verona, besser noch: bereits an der Grenze Widerstand geleistet zu haben, glaubt Ihr, durch eine Verbarrikadierung in Venedig alle Probleme lösen zu können. Dieses Verhalten galt nicht nur als militärisch und politisch unklug, sondern war für Nani auch ehrverletzend: die stolze Republik Venedig, die einst Großmächte wie das Osmanenreich bezwungen hatte, war nicht einmal fähig in „großen Linien“ zu denken. Statt den Krieg ganz und vollkommen zu führen, gab sie sich der Politik der kleinen Schritte hin. Das Schauspiel war einer Serenissima schlicht unwürdig. Wenn wir wollen, dann können wir auch!

Der Vorfall von Verona, die dauernden Rückwärtsrollen der Regierung und die gleichzeitige Unzufriedenheit der Bevölkerung der Republik, welche die Politik der Elite nicht teilten, waren die Menetekel des Untergangs der Serenissima.

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