Tag der Befreiung

8. Mai 2015
Kategorie: Europa | Freiheit | Medien | Regionalismus | Zum Tage

Eins muss man den Briten ja lassen: man geht unter der Woche wählen, schließt erst spät die Wahllokale und muss aufgrund des Mehrheitswahlrechts jeden einzelnen Wahlkreis auszählen. Dennoch hat man pünktlich zum Lunch des nächsten Tages ein Ergebnis, auf das man sich verlassen kann. In Italien braucht es zwei Tage für eine Wahl, und selbst im effizienten Deutschland braucht es meistens einen Tag oder länger, bis der letzte Wahlkreis ausgezählt ist (das wird oft vom Verhältniswahlrecht und dem vorläufigen amtlichen Endergebnis überdeckt).

So habe ich es mir auch nicht entgehen lassen, gestern ab 23.00 Uhr bei der BBC einzuschalten und etwas britische „Election Day“-Luft zu schnuppern. Am engen Zweikampf zwischen Tories und Labour hatte ich aber bereits vorher Zweifel. Regionalisten konnten es erahnen: obwohl Alex Salmond über das Referendum in Schottland gestürzt ist, war das nicht das Ende.

Die Medien behaupteten dazumal, 55% seien ein eindeutiges Ergebnis. Das war und das ist es nicht. Insbesondere nicht in einem Land mit Mehrheitswahlrecht, wo ein Kandidat mit einfacher Mehrheit den gesamten Wahlkreis einstreicht – „the winner takes it all“, und wenn es nur wenige Prozentpunkte sind. Wenn demnach 45% für eine Abspaltung Schottlands waren, und diesen Wunsch ernst meinten, gab es nur eine Alternative: nämlich die Scottish National Party.

Warum sollte dieser Wille nach einem halben Jahr verpufft sein? Glaubt die Londoner Elite, es handele sich hierbei um Folklore, Nostalgie oder um reines Bauchgefühl? Schon bei einer rechnerischen Milchmädchenrechnung wird klar, dass ganz Schottland nur von der SNP regiert werden würde, wenn alle Schotten geschlossen in jedem Wahlkreis zu 45% deren Kandidaten wählten. Schließlich müssen sich die übrigen 55% zwei andere Parteien teilen.*

Neben dieser Verharmlosung der schottischen Unabhängigkeitsgefühle gesellt sich die generelle Hybris, die schon vor einem Jahr zu beobachten war. Denn das Referendum war eben kein Strich unter dem regionalistischen Kapitel Schottlands. Im Gegenteil hat es die SNP gestärkt und mit den Schotten zusammengeschweißt. Einigen Schotten dürften noch all die Schmähungen aus London bekannt sein. Ebenso wenig vergessen ist die Verbrüderung der Labour-Party mit den Konservativen Camerons in der Kampagne „Better together“, welche die Schotten ans UK binden sollte. Letztendlich hatte Labour damit Erfolg – aber zu welchem Preis?

Schaut man auf vergangene Wahlen, dann erscheint Schottland als rote Labour-Halbinsel mit orange-liberaldemokratischen Streifen; weniger, weil die Schotten eine lange Geschichte der Arbeiterbewegung hätten, sondern vielmehr aus Trotz gegen die national-britischen Tories. Besonders in der Regierungszeit Margaret Thatchers entstand ein regelrechter Tory-Hass in Alba. Die Konservativen, das waren vor allem Engländer. Labour bot sich daher als Vehikel an, um die eigenen Interessen in London besser vertreten zu können. Jahrzehntelang konnten die Linken daher auf dieses Standbein bauen, ohne dieses recht umsorgen zu müssen – das passende Ergebnis aus den High- und Lowlands war ja garantiert.

Das Referendum öffnete den Schotten jedoch die Augen: nicht Labour, sondern die SNP setzte sich für die eigenen Rechte der Region ein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch viele Labour-Wähler dieses Mal ihr Kreuz bei der SNP machten – nicht, weil sie die Unabhängigkeit wollen, sondern weil sie der SNP eine bessere Durchsetzung ihrer Rechte zutrauen. Hier keimt der subsidiäre Grundgedanke des Regionalismus: wir wählen keine Partei, sondern Leute, die unser Dorf, unsere Stadt oder unsere Gemeinde vertreten, weil sie erstmal an die eigene Heimat denken.

Dass der Labour-Kandidat Miliband zudem eine mögliche Koalition mit der SNP ausschloss, dürfte ein strategischer Fehler gewesen sein. Damit war die eigene schottische Stimme bei der SNP bedeutend sicherer aufgehoben. Mit dem Referendum hatte die SNP von Cameron mehr Privilegien abgezwungen, als jede andere Partei in den Jahren zuvor.

Daher war von vornherein mit einer stärkeren SNP-Vertretung zu rechnen. Vorsichtig hätte man vielleicht auf zehn Sitze spekulieren können. Mit viel Optimismus auf zwanzig. Auf jeden Fall wären es Sitze gewesen, die Labour fehlen würden. Dass die SNP aber gleich 50 neue Mandate einstreichen würden, und die Schotten Labour und Liberaldemokraten aus dem Land trieben, das hätte man kaum für möglich gehalten. Nur drei Wahlkreise in Schottland fielen nicht an die SNP. Selbst Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der SNP, wollte die erste Prognose der BBC nicht glauben, und meinte: „Wenn diese Prognose richtig ist, dann esse ich meinen Kilt!“

Mit dem Ergebnis der SNP hatte Schottland gleich zweifachen Einfluss auf das britische Schicksal: zum einen, weil die Schotten nun stärker denn je im Londoner Parlament sitzen, zum anderen, weil sie dadurch Camerons überwältigenden Wahlsieg (indirekt) mitgestalteten. Der alte Premier ist der neue Premier – mit dem Unterschied, dass er nun alleine regieren kann, ohne den liberaldemokratischen Koalitionspartner.

Die Konsequenzen sind heute noch nicht zu ermessen. Klar ist: Cameron hat ein starkes Mandat bekommen, das seine Politik bestätigt. Dazu gehört auch das Referendum, das über einen EU-Austritt Großbritanniens in den nächsten beiden Jahren entscheiden soll. Dasselbe gilt aber auch für die SNP, die nun als drittstärkste Kraft im Parlament sitzt. Die Schotten sind mehrheitlich für einen EU-Verbleib und für eine stärkere Bindung an die EU. Sollte das Vereinigte Königreich tatsächlich aus der EU nach einem Volksentscheid austreten, könnten in Schottland Stimmen laut werden, ein nochmaliges Referendum zu veranstalten.

Weitere innenpolitische Konsequenzen werden zudem nicht lange auf sich warten lassen, wenn die Schotten ihre überproportional große Macht missbrauchen. Die Regionen Nordirland, Wales und auch England selbst könnten schon bald darüber genervt sein, dass die Kiltträger immer eine Sonderrolle spielen. Die Föderalisierung des Königreichs wird weiter vorangetrieben, um die Schotten in der Union zu halten; andererseits muss diese auch den englischen Untertanen genügen, die im Gegensatz zu den Schotten bis heute kein eigenes Regionalparlament besitzen, und weiterhin zentral aus London regiert werden.

Nigel Farages UKIP geht heute noch geschlagen vom Feld; sollte sein Nachfolger jedoch auf diese „englische“ Karte setzen, und Cameron den Schotten mehr Zugeständnisse machen, könnten einige der strammsten Tories nochmal die Seiten wechseln. Denn insgesamt hatte die Koalition mit den Liberaldemokraten Camerons Konservative gemäßigt; nun, da aber die Tories nach vielen Jahren wieder eine absolute Mehrheit haben, dürften auch EU-skeptische und nationale Töne wieder lauter werden. Für den Premierminister werden die nächsten Jahre demnach nicht einfacher.

Die regionale Frage, die zugleich die europäische ist – nämlich: was wird aus dieser Union? – wird damit wieder aktueller denn je. Einige versuchen ihr auszuweichen, andere sie totzureden, und wieder andere diffamieren die Fragesteller. Dadurch verschwindet sie aber nicht. Mit der Wahl in Großbritannien wurden stattdessen neue Zentrifugalkräfte in Bewegung gesetzt, die auch auf dem Kontinent Wirkung zeigen werden. Und das ist in erster Linie den Schotten und der von ihnen mehrheitlich gewählten SNP zu verdanken.

Bleibt mir nur noch zu sagen: Guten Appetit, Mrs. Sturgeon! Wollen Sie Ihren Kilt mit oder ohne Senf? Vielleicht könnte Paddy Ashdown Ihnen dabei Gesellschaft leisten. Der ehemalige Vorsitzende der Liberaldemokraten wollte nämlich der Prognose ebenso wenig glauben, weil dies den politischen Bankrott seiner Partei bedeutet hätte. Vielleicht gibt er Ihnen ja ein Stück von seinem Hut ab, im Austausch gegen ein Stück schottischen Stoffs mit Mintsoße…

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*Das britische Wahlrecht treibt noch andere Blüten. So hat dies zur Folge, dass die SNP nur 5% der Gesamtstimmen in ganz Großbritannien einfahren musste, um über 50 Parlamentssitze zu ergattern. Als Gegenbeispiel können die Liberaldemokraten und UKIP gelten, da diese ihre Stimmen verteilt über das gesamte Königreich einheimsten, jedoch nicht in den einzelnen Wahlkreisen die einfache Mehrheit erlangten. So hatten die Liberaldemokraten großbritannienweit 8%, also doppelt so viele Gesamtstimmen wie die SNP, bekamen aber aufgrund der Streuung nur 8 Sitze. Noch extremer lief es für UKIP: beinahe 4 Millionen Briten wählten die Partei von Nigel Farage (13%), die aber nur einen einzigen Wahlkreis ganz für sich gewinnen konnte.
Spätestens hier sollte man sich fragen, ob Farage nicht besser auf ein regionalistisch-englisches Pferd setzen sollte. Schließlich werden nun 4 Millionen englische UKIP Wähler von einer einzigen Person repräsentiert. Dafür haben 1 Million Schotten ganze 56 SNP-Abgeordnete, die deren Interessen vertreten.

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