Jubiläen sind trügerisch. Sie lenken ab und überdecken Ereignisse, die es ebenso wert sind, an einem Stichdatum betrachtet zu werden. Die deutschen Medien kennen in ihrer Tellerrandmentalität natürlich in diesem Jahr nur einen Termin: den 8. Mai. Der Kapitulation Deutschlands wird bereits seit dem Januar mit solchem Masochismus entgegengeeifert, dass alles andere in den Hintergrund rückt.
Dabei handelt es sich um ein höchstens symbolisches Datum. Bereits lange zuvor war die Entscheidung gefallen. Insofern ist der 8. Mai nur die Abwicklung eines Konkursunternehmens – ganz abgesehen davon, dass einige das eigentliche Ende des Krieges im August zu vergessen scheinen. Ich will mir weitere Hinweise ersparen.
Spannender sind jene Geschichten, die sich im Schatten dieser ekstatisch herbeigesehnten Daten ereigneten. Eine davon soll hier ihren Platz finden – denn im Gegensatz zum 12-jährigen Reich hat diese Erzählung noch kein Ende gefunden. Und da das Schicksal stets mit den Taten der Menschen ringt, wenn es darum geht, die Geschichte zu formen, kommt mir auch noch ein Zufall entgegen.
Ich bin kein Freund des Sterns, allerdings stehen die Geschehnisse dort am ausführlichsten beschrieben. Das hört sich natürlich herzergreifend an, in diesen Tagen, wenn dem mörderischen Treiben des Zweiten Weltkriegs gedacht wird: die „Monuments Men“ erstatten Deutschland fünf Gemälde zurück. Santo Dio! Natürlich hatte daran George Clooneys Film Anteil – das muss der Stern zitieren, da dieses Zeugnis natürlich das einzig Relevante ist, welches an den historischen amerikanischen Kunstschutz erinnert – denn der Erbe der Kunsträuber schaut genau besagtes cineastische Produkt, denkt an die wertvollen Gemälde mit zweifelhaftem Hintergrund und übergibt die mysteriösen Teile auch gleich der Stiftung. Und natürlich wird Deutschland das Kulturgut gönnerhaft zurückerstattet, mit Verweis von Frau Nuland (wir erinnern uns: Mrs. „Fuck the EU!“) darauf, dass die Gemälde „in ein würdiges Umfeld zurückkehren“.
Machen wir noch einmal eine Rolle rückwärts – am besten zurück in die 1940er Jahre. Die Monuments, Fine Arts, and Archives Section (MFA&A) war – grob gesagt – eine US-Truppe mit Ausbildung auf dem Gebiet der Kunstgeschichte, die in erster Linie zum Schutz und zur Rückerstattung kultureller Schätze eingesetzt wurde. Dabei ging es eben nicht nur gegen die Nazis und ihre Raubkunstorgien – wie in George Clooneys Film gezeigt – sondern auch um die Bewahrung von Kunstschätzen in Krisengebieten.
Ich will an dieser Stelle den „Monuments Men“ gar nicht ihre Rechtschaffenheit und Kompetenz absprechen – im Gegenteil, einem von ihnen habe ich schon ein Denkmal gesetzt. Allerdings müssen wir Mythos von Geschichte unterscheiden. Die MFA&A war eine kleine, völlig überforderte Truppe. Und auch, wenn der Kunstschutz noble Ziele verfolgte, so war er weder mit der US-Armee, noch mit der US-Regierung gleichzusetzen.
So waren für ganz Italien 27 Kuntschutzoffiziere unterwegs, die Hälfte davon keine Amerikaner, sondern Briten. Wer einmal in einem großen italienischen Museum war, weiß, dass man damit vielleicht ein Gebäude bewachen kann, aber sicherlich nicht das Land mit dem größten menschlichen Weltkulturerbe. Paradebeispiel Montecassino: das älteste Kloster des Abendlandes, der Ort, an dem Benedikt von Nursia das mittelalterliche Mönchsleben quasi aus der Taufe hob, wurde 1944 zum erbitterten Schlachtfeld. Es waren damals die Deutschen, die dieses Kloster eben nicht zum Kriegsschauplatz machen wollten, sondern die Alliierten. Die zerstörten diesen monumentalen Prachtbau mit 1400jähriger Geschichte kurzerhand, um den Deutschen keinen taktischen Vorteil zu lassen.
Dies verdeutlicht, dass es eben keine Erzählung „böse, kulturvernichtende Deutsche“ und „gute, kulturrettende Amerikaner“ gab und die gesamte Angelegenheit durchaus ein graues Feld blieb.
Im Übrigen hatte der deutsche Oberkommandierende in Paris von Hitler den Befehl erhalten, vor der Eroberung durch die Alliierten die Stadt in die Luft zu jagen. Passiert ist: nichts. Eben weil es in all dem Grauen der damaligen Zeit aufrechte Männer mit Ehre und Verantwortung gab – auf beiden Seiten.
An dieser Stelle kommen wir auf den verlinkten Artikel zurück. In all der Jubelstimmung wird ein Satz völlig überlesen. Die Kunstwerke seien nur die „Spitze des Eisbergs der hunderttausenden Gemälde und anderer Kulturgüter, die seit dem Zweiten Weltkrieg noch immer vermisst werden“, lesen wir da. Das sagt niemand geringeres als Robert Edsel, welcher der Monuments Men Stiftung angehört. Diese ist keine Nachfolgerorganisation der MFA&A, sondern ein Institut, das deren Geschichte erforscht und sich um verschollene Gegenstände kümmert, die im Zweiten Weltkrieg verloren gingen – zumeist als Beutekunst amerikanischer Soldaten.
Wir merken uns: wenn Kriegsverlierer Kunst entwendet haben, dann handelt es sich um Raubkunst; wenn Kriegsgewinner Kunst entwenden, nennt es sich Beutekunst. Wenn aber „Freunde“ Kunst im Krieg entwenden, dann sprechen wir davon, dass Dinge „vermisst werden“.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: ein amerikanischer Stiftungsvorsitzender räumt ein, dass hunderttausende Kunstgegenstände aus Deutschland nach Amerika geraubt wurden. Man stelle sich mal vor, was los wäre, wenn nicht die USA, sondern die Franzosen so eine Meldung verbreiteten. Man kann jetzt sagen: die Russen haben es doch auch getan. Allerdings haben die Russen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Archive geöffnet, und selbst wenn der Schatz des Priamos heute im Puschkin-Museum, statt im Pergamon-Museum ausgestellt wird – wir wissen wenigstens, was in der Ex-SU liegt, und was die Russen verschleppten (und teils auch wieder restituiert haben).
Die Amerikaner dagegen schieben gerne die „Monuments Men“ vor, um ihre saubere Weste vorzuzeigen, insbesondere, um sich von Stalins Trophäenbrigade abzugrenzen, welche gezielt deutsche Kunst nach Moskau verschleppen sollte. Dabei haben die Amerikaner selbst einmal einen gewaltigen Hort deutscher Kultur geplündert: nämlich im Salzbergewerk Merkers (Thüringen). Merkers lag nach den Vereinbarungen von Jalta im zukünftigen sowjetischen Sektor, womit die dortigen Güter an deren Truppen gefallen wären. Die GIs kamen der Roten Armee jedoch zuvor, räumten das gesamte Lager aus, und brachten „das ganze Zeug“ (Wortlaut Patton, der das Kommando hatte) nach Frankfurt, ins US-Hauptquartier.
Dort hatten die wenigen Kunstschutzoffiziere die undankbare Aufgabe, hunderte Besitztümer deutscher Museen durchzuforsten, zu katalogisieren und zurückzuerstatten. Darunter waren Highlights vom Range der Nofretete oder Caravaggios Amor vincit omnia – in den Händen von jungen Männern zwischen zwanzig und dreißig Jahren, zusammen mit ihren deutschen Assistentinnen. Mittendrin kommt Nachricht aus Washington: als „Reparationen“ sollen 200 Gemälde höchsten Ranges verschickt werden. Darunter Werke von Tizian, Rembrant , Dürer und Botticelli. Kurz: die USA, die verständlicherweise einen Mangel an Kunst aus der Frühen Neuzeit hat, will sich am deutschen Kriegsverlierer kulturell bereichern.
Erst da tritt der wahre Held des Kunstschutzes auf, nämlich Walter Ings Farmer, der sich gegen diesen Befehl „von oben“ wehrt. Farmer verständigt seine Kollegen, macht den Fall publik. Der rollt in die USA zurück. Farmer initiiert das „Wiesbadener Manifest“, indem er und seine Mitverschwörer sich gegen den offiziellen Kunstraub wehren:
„Wir möchten darauf hinweisen, dass unseres Wissens keine historische Kränkung so langlebig ist und so viel gerechtfertigte Verbitterung hervorruft, wie die aus welchen Gründen auch immer erfolgte Wegnahme eines Teils des kulturellen Erbes einer Nation, selbst wenn dieses Kulturerbe als Kriegsbeute betrachtet werden könnte.“
Leider kann nicht angenommen werden, dass alle Männer in der US-Armee so rechtschaffen waren wie Farmer. Denn diese fünf Bilder sind nicht die ersten und auch nicht die letzten Artefakte, die amerikanische Soldaten unter der Hand mitgehen ließen. Die deutsche Presse und die amerikanische Medienindustrie bauen aber eher darauf, ihre Mythen zu erzählen, statt endlich investigativ und mit aller Härte nachzuforschen. Jeder, der sich etwas mit dem Verbleib deutscher Museumsbestände im Jahr 1945 beschäftigt, verwundert die Angabe von „hunderttausenden“ geraubten Kunstgütern nicht.
Heute, vor 70 Jahren, in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1945 brannte es im Flakbunker Friedrichshain. Die Berliner Museen hatten dort einen Teil der Berliner Gemäldegalerie und die Antikensammlung gelagert, damit diese vor den Bombardements der Alliierten geschützt waren. Als die Sowjets das Lager nach dem Feuer untersuchten, fanden sie weder von den Skulpturen, noch von den Gemälden irgendeine Spur. Bis heute wirft der Fall Rätsel auf.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion tauchten dort Skulpturen und Keramikscherben auf, die als zerstört galten. In den USA fand man 2012 ein Gemälde von Boltraffio, das angeblich in Friedrichshain verbrannte.
Die Geschichte blinzelt daher wieder mal ironisch, wenn sie ausgerechnet am 6. Mai 2015 wieder fünf verschollene Gemälde das Licht der Welt erblicken lässt.