Lusitania? Tschaikowsky!

7. Mai 2015
Kategorie: FAZ-Kritik | Historisches | Medien | Musik | Zum Tage

Lusitania, Lusitania! Wo man auch heute in die Onlineausgaben der deutschen „Qualitätspresse“ blickt, schreit einem das Unglück nur entgegen. Da bleibt eigentlich nur ein Wort von Nietzsche übrig: „Dies ist mein Mitleid mit allem Vergangenen, daß ich sehe: es ist preisgegeben, – der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes Geschlechtes preisgegeben, das kommt und alles, was war, zu seiner Brücke umdeutet!“ Auch hier eine unweigerliche Kausalkette: die Deutschen attackieren – natürlich illegal – die Lusitania. Die USA treten in den Krieg ein. Deutschland verliert den Weltkrieg. Weimarer Republik. Krise. Hitler. Katastrophe.

Aber zurück zur Lusitania. Da wird ein Passagierschiff am 7. Mai 1915 mit Munitionsbeladung von der kaiserlichen Marine angegriffen, und deshalb erklären die USA den Mittelmächten den Krieg – zwei Jahre später. Klingt vollkommen logisch!

Natürlich geht es hier um ein rundes Datum. 100 Jahre machen einfach mehr her; besonders einen Tag vor dem 8. Mai (existiert noch ein anderes Datum dieses Jahr?). Und wenn auch noch die Deutschen Schuld haben, umso besser. Selbstgeißelungen hatten wir in Italien auch, allerdings im Mittelalter. Die Flagellanten empfanden eine unglaubliche Wonne dabei, sich stets mit scharfen Gegenständen zu jedweder Gelegenheit selbst zu verletzen. Bald machten sie sich auf den Weg nach Norden, wo sich die Bewegung auch im Reich verbreitete.

Anscheinend sind einige Anhänger immer noch in den Redaktionsstuben unterwegs.

Es ist ein Armutszeugnis, dass in keiner einzigen Onlineausgabe der namhaften deutschen Tageszeitungen der „Qualitätspresse“ ein Sterbenswort über ein anderes Jubiläum verloren wird: nämlich der 175. Geburtstag des russischen Komponisten Peter Tschaikowsky. Klar, macht nicht so viel her wie Tod und Zerstörung. Ich will auch gar nicht Tschaikowsky und die Lusitania gegeneinander aufwiegen – mir geht es eher darum, dass dieses Ereignis kaum angesprochen wird, und das andere so bombastisch, sodass man auf den Gedanken kommen mag, dass das entweder gewollt ist – oder, dass jedwedes Kulturbedürfnis in den selbsternannten „Feuilleton“-Stuben des Web 2.0 auf dem Niveau des nachmittäglichen Fernsehprogramms angekommen ist.

Tschaikowsky, verdammt! Für mich persönlich nach Beethoven der größte Komponist den man sich nur ausdenken kann. Meine subjektive Meinung. Aber ich glaube, dass die Musikfachwelt – ich kann mich natürlich auch irren – durchaus der Meinung ist, dass es sich hierbei um einen nicht ganz unbedeutenden Mann handelt. Und zwar um einen Giganten, der eben nicht nur auf Schwanensee heruntergebrochen werden kann. Tschaikowsky hat eine Bandbreite die vom schmalzig-süßen Blumenwalzer des Nussknackers bis hin zum brachialen Wutgebrüll der 4. Sinfonie reicht. Dessen Violinkonzert im zweiten Satz die vollendete Melancholie der russischen Seele gelingt, um anschließend in mitreißendem Vivace des dritten Satzes nie gekannten Elan zu versprühen. Das ist derselbe Tschaikowsky, der uns mit Romeo und Julia, sowie dem Trepak so eingängige Musikstücke beschert hat, dass diese kaum aus der Allgemeinkultur wegzudenken sind. Wir sprechen von dem Tschaikowsky, der im überwältigenden Finale der Ouvertüre 1812 Napoleon mit der Marseilleise, die Russen mit Schnellmarsch und Kanonenfeuer auftreten ließ – ein Orchester mit echter Artillerie als Instrument!

Und mit Sicherheit ist Tschaikowsky der Mann, dessen Musik wie keine andere von Hollywood für Filmmusik adaptiert, imitiert, kopiert und plagiiert wurde. Ja, ich meine dich, John Williams!

An dieser Stelle aber soll einem Aspekt besonderen Platz eingeräumt werden: Tschaikowsky hatte sich zeitlebens heftiger Kritik zur Wehr zu setzen. Seine Musik wurde zerissen, seine Zeitgenossen empfanden sie zu „unrussisch“ oder fanden sonstige Geschmacks- und Stilgründe, um den guten Pjotr fertigzumachen. Insofern ärgert es mich umso mehr, dass anscheinend Tschaikowsky heute eine ähnliche Ignoranz entgegengebracht wird, gleich jener, der er jahrelang entgegentreten musste. Das hat dieser Mann von unglaublicher musikalische Größe, von dessen Einfällen Unzählige heute zehren – nicht verdient!

Das einzige größere Internetmagazin von Rang, das randweise von Tschaikowskys Geburtstag berichtete, war der Focus. Aber Obacht! lesen wir die Schlagzeile: Russland feiert das Musik-Genie Tschaikowsky. Ja, wieso eigentlich nur Russland? Was sich zuerst wie ein Kulturartikel liest, wird höchst politisch. Schnell geht es da nur noch um seine Homosexualität und russische Innenpolitik (bzw. Innenpolitik, die der nichtrussischen Presse passt). Ja, und das war’s? Schickt Putin mit einer Sojus von mir auf den Mond, interessiert mich nicht – aber lasst mir den Peter in Ruhe! Oder kommen nach den EU-Sanktionen gegen Russland nunmehr auch Tschaikowsky-Sanktionen?

Das geschieht, wenn sich geistige Zwerge der Welt an den Titanen der Vergangenheit zu schaffen machen. Nietzsche lässt wieder grüßen.

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