Die Welt der Vernunft und die Geschichte I

22. April 2015
Kategorie: Die Welt der Vernunft und der Geschichte | Historisches | Philosophisches

Wir leben in einem Zeitalter, das von den Naturwissenschaften beherrscht wird – trotz anderslautender Urteile, die den geisteswissenschaftlichen Kropf beklagen. Quantität und Einfluss sind zwei unabhängige Dinge. Evolutionen und Revolutionen wurden so gut wie nie von der Mehrheit, sondern von jenen mit Einfluss getragen. Unser Denken ist daher auch extrem naturwissenschaftlich geprägt: ja oder nein, schwarz oder weiß, richtig oder falsch. Das Leben wird zu einer einfachen Schaltsystem von „Entweder oder“ degradiert, in dem eindimensionale Antworten reichen.

Nun ist aber gerade die Geschichtswissenschaft alles andere als eindimensional (oder: monokausal). Das ist unvermeidlich, da sie sich mit Menschen befasst. Menschen sind irrational, sprunghaft, widersprüchlich, unberechenbar, vielfältig und individuell. Jedwede Definition des Menschen führt daher in die Irre – und es macht die Arbeit um ein vielfaches komplizierter. Beim Menschen existiert prinzipiell nur ein „Licht-an, Licht-aus“-Modus, nämlich in der Folge seiner Geburt und seines Ablebens. Für alles dazwischen existieren so gut wie keine absoluten Gewissheiten.

Dieses absolute Wissen um eine Tatsache ist jedoch der naturwissenschaftliche Kern der heute lebenden Menschheit. Ihren Beginn nimmt sie mit René Descartes und den nachfolgenden Aufklärern. „Ich denke, also bin ich“, ist sein weltzerbrechendes Dogma, welches die Menschen ihre Umgebung neu erblicken lässt. Für Descartes lässt sich die Welt nur über den Zweifel erkennen. Mit ihm beginnt ein Zeitalter der Vernunft.

So weit, so gut. Descartes Nachfolger treiben diese Erkenntnis jedoch auf einen neuen Höhepunkt, nämlich, dass alles, was nicht vernünftig ist, folgerichtig unvernünftig sein müsse. Dieser Wechsel ist wichtig, denn Descartes hatte zumindest noch eingestanden, dass „im Zweifel der Irrtum“ bliebe. Besoffen von dem Gedanken, dass nun die Vernunft die neue Herrin der Welt sei, schicken sich aber die neuen Lehrer der Vernunft an, die Welt bis ins Detail erklären zu müssen. Sie nennen sich selbst „Aufklärer“, um Licht ins Dunkel zu bringen.

Die Aufklärung wird heute in der Schule und in den Medien als die Wende in der europäischen Geschichte verehrt. Das wird schon daran deutlich, dass die EU diese Werte als die ihren ausgibt. Von „Aufklärung“ und „Menschenrechten“ wird da gefaselt, die zuletzt in die glorreiche französische Revolution münden.

„Menschenrechte“, die allerdings rein gar nichts gegolten haben, wenn man nicht derselben Meinung anhing wie die Vernunftgläubigen – die Royalisten der Bretagne, die Kleriker unter der Guillotine, die Partisanen in Spanien und überhaupt alle Menschen, welche die Segnungen der Vernunft nicht begrüßten, wurden teils grausam verfolgt und getötet. Es existieren Fälle, in denen die Ritter der Vernunft widerspenstige Dorfgemeinschaften in Boote setzten und auf dem Meer ersaufen ließen, da man die Guillotine für zu langsam empfand. Wir merken uns: Meinungsfreiheit ist das erste Gut, welches der Vernunft im Namen der „Menschenrechte“ geopfert wird.

Wie komme ich nun von Descartes, Erkenntnis und Vernunft zu den Gräueltaten der Revolution? Sie stehen eben nicht zusammenhanglos beisammen, denn der Grundgedanken des Absoluten steckte ebenso im wissenschaftlichen Anspruch der aufkommenden Naturwissenschaften wie im Gedankengut eben jener Aufklärer. Die Begeisterung, der damalige „Zeitgeist“, für alles Vernünftige, Wissenschaftliche, Progressive und die Suche nach dem absolut Richtigen ist nur eine Seite der Medaille. Die Kehrseite: wenn die menschliche Vernunft das höchste Gut ist, dann macht sie konsequent alles richtig, und jeder, der dagegen ist, muss prinzipiell verbohrt oder moralisch verkommen sein.

Fassen wir zusammen: die Aufklärer, die in Schulen und Universitäten hochgejubelt werden, prägen uns bis heute. Sie stimmten das Hohelied der Vernunft an, dass alles beweisbar sei; alles mit Experimenten verifiziert werden könnte; alles mit menschlicher Vernunft durchdrungen und gedacht werden könne; dass alles, was nicht vernünftig sei, abgeschafft werden müsse. Streng genommen hört sich das überhaupt nicht vernünftig an, sondern radikal verblendet. Persönlich ist es für mich gleich, ob jemand an Allah oder an die Vernunft glaubt, wenn er deswegen denkt, die Wahrheit gepachtet zu haben, äußert sich das langfristig in Massenmord.

Leider setzt sich erst langsam der Gedanke durch, dass unsere Vernunft extrem begrenzt ist, was allein schon die Ansammlung historischer Beispiele unterstreichen sollte. Alle, die jetzt mit „aber die Kirche“ ankommen, sei gesagt: allein in der Bretagne (Aufstand der Vendée) massakrierten die Revolutionäre zwischen 1793 und 1800 dutzendmal mehr Menschen als die Inquisition seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts. Dennoch spielen in unserem Geschichtsverständnis die böse Kirche und das reaktionäre Papsttum (inklusive Unterdrückung der Frau, Hexenverfolgung und angebliche wissenschaftliche Repression) eine größere Rolle als die Verbrechen der Revolution, als deren geistige Nachfahren sich unsere heutigen politischen Systeme verstehen.

Kurz: die vernünftigen Männer und Frauen, die sich als „Wissen“-schaftler im wahrsten Sinne des Wortes gerierten, betrieben Menschenexperimente. Experimente, die unter marxscher Prägung im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung fanden, wobei auch einige verquere italienische und deutsche Sozialisten dem roten Brei braune Zutaten zumischten. Nicht der Schlaf der Vernunft gebar Ungeheuer, sondern ihre Überbewertung.

Ich sage es ganz offen: was um uns herum passiert und geschieht, ist viel zu groß und wunderbar, als dass der stecknadelgroße Verstand des Menschen es jemals durchdringen wird. Wenn jemand von sich behauptet, dass er die Welt durchschaut hat, dann bitteschön: ich werde es nicht, kann es nicht, und halte jeden für einen Aufschneider, der es mir zu versprechen versucht. In manchen Angelegenheiten ziehe ich den Glauben der Vernunft vor; nicht, weil ich einem reaktionär-religiösen Kult um einen Mann aus Nazareth anhänge, sondern in der Gewissheit, dass unser schöner blauer Planet nur ein Staubkorn am Sandstrand des Universums ist.

Denker, die behaupten, es gäbe „kein richtiges Leben im falschen“ halte ich entgegen: ein Leben mag falsch oder richtig sein, das ändert aber nichts an der Richtigkeit der Welt. Gleich, wie ich es mir hinbiege. Die Sonne wird morgen auch ohne Adornos Vernunft aufgehen, so, wie Gott sich auch nicht um den Tod Nietzsches kümmert – alles streng metaphysisch gesprochen, natürlich.

Statt das Wunder und die Herrlichkeit des Lebens anzunehmen, und ihm jeden Tag mit Freude zu begegnen – reden wir uns diese Welt kaputt, mit einem defekten Verstand, der uns mehr von der Welt verdirbt, als dass er uns dafür echte Erkenntnis gibt. Jene, die das Paradies erschaffen wollen, führen uns dagegen geradewegs in die Hölle, um ein Wort von Karl Popper zu bemühen. Diese scheinwissenschaftliche Mentalität, die eben auf alles eine Antwort weiß, und die Wissenschaft als höchstes Gut ansieht, übersieht völlig, welcher Hybris man anheimgefallen ist. Die Welt der Naturwissenschaftler ist die ihre, aber wer denkt, mit Systemen, Experimente und dergleichen dieselben Maße an die Menschheit und die ganze Welt legen zu können, der maßt sich an, Gott zu spielen. Das ist zwar konsequent, wenn die Vernunft die Göttin ist, aber Lehren aus dem Menschsein sind damit zum Scheitern verurteilt.

Deswegen spielen auch gar nicht die Naturwissenschaftler die Rolle des Hasardeurs – die ich hier in gar keiner Weise anklagen will, sondern eher als Opfer, denn als Täter ansehe! – sondern jene, die denken, deren Ideen auf die gesamte menschliche Erfahrungswelt anzulegen. Genau das geschieht jedoch seit ca. 300 Jahren, und hat Blüten hervorgebracht, die meistens als „-ismen“ daherkommen. Mittlerweile wird jeder Unfug irgendwie „wissenschaftlich“ belegt (und ich meine nicht nur Galileo Mystery), weil es so quasi immer als „wahr“ aufgefasst wird. Wissenschaftlich = gut. Dass es sich dabei um einen Mythos handelt, und die größten Wissenschaftler fast durchweg eher die Grenzen des Wissens, als dessen Größe betonen, wird fast immer ausgeklammert. Dass die Evolutionstheorie mit einem quasi-religiösen Eifer gepredigt wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Heilige Wissenschaft!

An dieser Stelle kommen wir zum immanenten Problem, das zuletzt mit der Religion kollidiert. Richard Dawkins („Der Gotteswahn“) wurde einst von einer Christin gefragt: „Was ist, wenn Sie falsch liegen?“ Statt konkret zu antworten, schlug Dawkins die Dame mit Gegenfragen, nach dem Motto: wenn sie nicht in den USA, sondern in Indien geboren würde, dann wäre sie mit Sicherheit Hindu; hätte sie in Dänemark zur Zeit der Wikinger gelebt, hätte sie die dortigen Gottheiten verehrt. Kurz: vielleicht irren Sie sich, weil Religion nur mit der Umwelt zu tun hat?

Und genau hier, wo das Publikum johlte, hätte man einhalten müssen. Der Vernunftgläubige kennt nicht zwei Lösungen. Es gibt nur eine. Es gibt immer richtig und falsch. Wenn man Christ ist, müssen alle anderen falsch liegen. Allein die Existenz von Hindus und Christen schließt aufgrund ihrer Unvereinbarkeit logischerweise die „Richtigkeit“ des Konzepts Religion aus. Schwarz kann nicht weiß sein. Ja oder nein.

Was Dawkins und viele seiner Vernunftbrüder übersehen: außerhalb der Naturwissenschaft muss nicht nur eine Antwort existieren. Sonst hätte es keinerlei Sinn, dass Franziskus sich mit allen Religionsführern der Welt trifft. Letztendlich hat man eine andere Meinung und einen anderen Glauben, das heißt aber nicht, dass nur, weil man selbst richtig liegt, alles andere falsch sein muss. Noch einmal: nur, weil die Vernunft etwas als richtig erkennt, muss nicht alles, was außerhalb davon liegt, konsequent falsch sein. Damit ist die Religion in ihrem Prinzip um einiges humaner, menschlicher, als die kalte Vernunft, die nur richtig und falsch unterscheiden will und alles, was ihr nicht zugänglich ist, als unvernünftig (heißt: wertlos) abtut.*

Diese vernünftig-naturwissenschaftliche Kultur der Erkenntnis hat damit einen entscheidenden Makel: sie ist monokausal. Monokausalität bezeichnet eine Erklärung, die eben nur auf einer einzigen Grundlage fußt. Allein aus unserem Alltag wissen wir aber, dass viele Situationen sich aus einer unglaublichen Anzahl von Handlungen ergeben, für die selten nur eine einzige Quelle verantwortlich ist. Hier setzen Historiker gerne an: für Napoleons Aufstieg sind weitaus mehr Faktoren verantwortlich, als nur der Ausbruch der Revolution. Sonst hätte jeder Artilleriekommandant Kaiser werden können – das war aber eben nur Napoleon möglich! Die Gründe sind vielfältig.

Wer sich daher mit Geschichte befasst, muss sich von gewöhnlichem Vernunftdenken befreien und über den Tellerrand schauen, weil eines seiner Themen – der Mensch – völlig irrational ist. Und das ist tatsächlich kein Mangel, sondern ein Teil jener unerklärlichen Großartigkeit, welches das Geheimnis der Welt ausmacht.

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*Natürlich kann man auch den Spieß erneut umdrehen: weil Dawkins in einer westlichen, vernunftgläubigen Gesellschaft aufgewachsen ist, hat er keine andere Wahl, als an die Vernunft zu glauben und ergo Gott auszuschließen. Aber auf dieses von Dawkins angefeuerte, schopenhauersche Niveau der Eristischen Dialektik muss man ja nicht gleich einsteigen.

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