Die Welt der Vernunft und der Geschichte II

23. April 2015
Kategorie: Die Welt der Vernunft und der Geschichte | Historisches | Philosophisches

Um Missverständnissen vorzubeugen: hier sollen nicht die Naturwissenschaften, Systeme oder die Vernunft angegriffen werden, sondern die Vernunft als absolute Quelle jedweder Erkenntnis. Nicht die Vernunft oder die Aufklärung, sondern der Ganzheitsanspruch derselben, die Welt bis ins hinterletzte Detail zu erklären, sind jenes gefährliche Gift, das einem den Geist vernebeln kann. Schwarz-Weiß-Denken mag für Ideologen erstrebenswert und logisch (!) sein, da jedwede Ideologie sich in zwingenden Kausalketten verfängt. Solche Leute sollten sich aber tunlichst von der Geschichte fernhalten. Zwangsläufig muss alles, was als „totale“ Antwort dient, totalitär werden.
Wenig verwunderlich, dass es daher lange Zeit eine bedeutende marxistische Geschichtswissenschaft gab. Allerdings kam – oh Wunder – natürlich genau das raus, wonach man suchte.

Die dauernde Betonung von „schwarz und weiß“ hat tiefere Bedeutung. Thomas Nipperdey – der sicherlich zu den bedeutendsten Historikern des 20. Jahrhunderts zählen darf – hat einmal treffend gesagt: „Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihr Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.“ Nachzulesen im dritten Band seiner Deutschen Geschichte, und eine der wenigen Kernaussagen über dieses Fach, die ich vorbehaltslos unterschreiben würde. In eine ähnliche Richtung geht Nipperdeys Vorstoß bei der Frage, ob Geschichte objektiv sein könne, die er in einem eigenen Essay behandelt.

Klarer und prägnanter hat dies nur Konrad Vössing auf den Punkt gebracht: „Kann der Historiker objektiv sein? Soll der Historiker objektiv sein? Wäre das nicht kalt? Sollte man nicht besser versuchen, gerecht zu sein?“ Der Satz ist eine Perle im Meer der Klarheit!

Was aber ist nun diese „Gerechtigkeit“ des Historikers, die gerade aus dem Mund eines Althistorikers wie Vössing gleich nach Aristoteles und Marc Aurel zu rufen scheint? Ich glaube, sie ist den stoischen Idealen gar nicht einmal so fern – wenn man den Stoizismus nicht als kalte Pflichtlehre versteht, sondern als Philosophie, der es um Besserung des eigenen Charakters und die ruhige Betrachtung der Gegebenheiten geht.

Von dieser Gerechtigkeit spricht auch Nipperdey. Er betrachtet den behandelten Zeitraum „aus sich selbst“ heraus, statt aus der Perspektive unserer aktuellen Zeit. Das deutsche Kaiserreich (1871-1918) ist bei ihm eben keine Vorerzählung der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, ebenso wenig, wie es die „Vollendung der deutschen Nationalstaatsidee“ für die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts war. Nipperdey betrachtet die damalige Zeit aus ihren eigenen Gegebenheiten und aus den Augen der damaligen Akteure.

Ähnlich handelt Christopher Clark, dessen Buch „Die Schlafwandler“ über den Ausbruch des 1. Weltkrieges genau demselben Konzept folgt. Bei Clark erleben wir Geschichte, als spielte sie sich aktuell vor unseren Augen ab. Um aber die Akteure und ihre Handlungen – die aufgrund von Zeitgeist und Mentalität vielen fremd erscheinen – zu begreifen, muss man ihre Motive, ihre Hintergründe, ihre Vorstellungen kennen, bevor man sie nachvollziehen und verstehen kann. Das bedeutet nicht, dass man sie zwangsläufig gutheißen muss, und es bedeutet natürlich auch nicht, diese als unabänderlich anzunehmen; ein gerechtes Urteil über eine Person und eine Handlung kann aber nur im Rahmen der damaligen Welt gefällt werden.

Das liest sich zuerst schlüssig und allgemein. In der Tat stoßen sich aber die meisten Leute gerade daran. Nehmen wir einen der populärsten Gerichtsfälle der Geschichte, der immer wieder in unserer „Vernunftzeit“ ausgegraben wird: den Fall Galileo Galilei.
Der Pisaner hatte nicht nur die Jupitermonde entdeckt, sondern auch die wissenschaftliche Theorie verteidigt, dass sich die Erde um die Sonne drehe. Dieses heliozentrische Weltbild hatte Kopernikus bereits vertreten; was aber weit weniger Menschen wissen: schon die Griechen kannten die „heliozentrische“, also sonnenzentrierte These.

Und genau hier sollte man ansetzen: warum hat sich das sonnenzentrierte System, demnach die Erde und andere Planeten sich um die Sonne drehten, nicht in der Antike durchgesetzt? Warum haben die alten Griechen der geozentrischen Idee, nämlich, dass sich alle Planeten und die Sonne um die Erde drehten, den Vorzug gegeben? Die Antwort: das Phänomen der Gravitation ließ sich nicht anders erklären. Aristoteles postulierte, dass die Erde in der Mitte des Universums liegen müsse, und alles anziehe. Die Sonne und die anderen Planeten beständen dagegen aus einer Quintessenz, einem fünften, unbekannten Element, das sie auf Kreisbahnen halte.

Diese Theorie war so selbsterklärend, dass sie zum wissenschaftlichen Standard gehörte. Die These, die Erde befinde sich im Zentrum des Universums, ist daher auch weniger eine biblische oder gar katholische Lehrmeinung, sondern sie wurde über Jahrhunderte tradiert und von der Kirche aufgenommen. Aristoteles war der Pflichtstoff an allen Universitäten Europas, und die Autorität seines Namens allein erstickte jeden Zweifel.

Folgerichtig war die Frage des Inquisitors an Galilei in seinem Verhör: „Wenn sich die Erde um die Sonne dreht, wie verhält es sich mit der Schwerkraft?“ Unser Pisaner hatte darauf schlicht und ergreifend keine Antwort. Er wusste sie einfach nicht. Kurz: er konnte seine Theorie nicht verifizieren, weil sie ungeahnte Probleme auf einem anderen Feld erzeugte. Deshalb hatte Galilei auch keine andere Möglichkeit, als seine Theorie zu widerrufen. Nach dem damaligen Wissensstand hatte die Katholische Kirche absolut Recht damit, dass Galileis Theorie absurd war – ebenso wie seine irrige Behauptung, die Gezeiten hingen mit der kreisenden Erde zusammen!*

Dennoch wird Galileo nicht nur heute, sondern insbesondere von Ideologen der „Vernunft“-Schule als Heiliger verehrt. Für sie zählt eben nicht das Argument der potentiellen Falsifizierbarkeit und auch nicht, dass heutzutage kein Wissenschaftler unter solchen Gesichtspunkten anerkannt werden würde, sondern die reine Ausrichtung auf das Ende. Klar, wir wissen heute, dass die Erde um die Sonne kreist – aber dieses Wissen vorauszusetzen, und sogar nach den damaligen Begebenheiten aus unserer Perspektive zu urteilen, ist ungerecht. Wer diesen Weg geht, der muss gleichfalls die Pestopfer wegen mangelnder Penicillinbestände kritisieren und die mangelnde Demokratie im frühmittelalterlichen Frankenreich beklagen.

Paradoxerweise geschieht das aber heute fast durchweg, wenn alles, was früher Stand der Dinge war, per se als rückständig angesehen wird. Jeder, der den eigenen Wert einer Epoche unterstreicht, kommt dann schnell in den Ruch des Ewiggestrigen, des Reaktionärs, des Kerls, der meint „früher sei alles besser“ gewesen. Letztere Gedankengänge kann man jedoch nur haben, wenn man eben auf ein „Ziel“ schaut, wenn man glaubt, dass sich Geschichte „entwickelt“, irgendwohin „strebt“ oder sogar in etwas „mündet“.

Schon diese zielgeleiteten Vorstellungen sind zutiefst konstruktivistisch und immanent überheblich – keiner weiß, wohin sich die Geschichte entwickelt. Einen permanenten Fortschritt gibt es aber – entgegen dem Vernunftglauben – nicht. Wer daran tatsächlich glaubt, soll Rom und Italien unter Trajan und dieselbe Ecke in der Langobardenzeit vergleichen. Denselben Knick gab es zwischen 1500 und 1700. Selbst in der neuesten Geschichte sollte den Leuten bewusst sein, dass es den Menschen 1970 in der Sowjetunion erheblich besser ging als Anfang der 90er Jahre. Und wir sehen bereits jetzt Anzeichen, dass unser schönes, friedliches Europa der letzten 60 Jahre auch nicht ewig halten wird.

Kommen wir daher an dieser Stelle, wo sich die vernünftige Hybris und die Lehren der Geschichte treffen, auf Galileo zurück. Wir sehen, dass die Wissenschaft nicht unfehlbar ist, und sich konsequenterweise immer weiterentwickeln muss; dass diese eben nicht nach Wahrheit, sondern nach Fakten sucht. Wahrheit ist letztgültig; Wissenschaft ist es nicht (was positiv ist, denn das entspricht ihrem Wesen). Wer beides gleichsetzt, landet im Verband der Vernunftjünger, die ihre Opfer in Gulags steckten, vergasten und Menschenexperimente durchzogen – auf der Suche eines irgendwie gearteten „Neuen Menschen“, den es zu schaffen galt. Eben, weil man die Welt nicht nahm, wie sie war, sondern sie so haben wollte, wie sie sein sollte. Nichts ist schrecklicher als der Mensch in seinem Wahn.

Und selbst hier muss der Historiker nicht mit Verachtung, nicht mit Moral daherkommen, sondern auch diese Vorgänge als Kinder ihrer Zeit nachvollziehen und im besten Fall begreifen, was in diesen Menschen vorging, eben weil wir keine Überwesen sind, sondern im Zweifelsfall mehr mit diesen dämonisierten Monstern gemein haben, als uns recht sein mag.

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*Erst Isaac Newtons Schwerkrafttheorie sollte diesen Gordischen Knoten lösen – und nebenbei fand der Engländer auch heraus, dass der Mond die Gezeiten erzeugte, und nicht etwa die Erde, die auf ihrer Kreisbahn hin- und herschwappte. Allerdings hat auch Newton sich auf bestimmten Feldern geirrt, was erst Albert Einstein – trotz heftiger Widerstände – beweisen konnte.
Aber das ist eine völlig andere Geschichte.

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