In letzter Zeit werde ich vermehrt von angehenden Abiturienten gefragt, warum man Geschichte studieren sollte. Wenn man nicht unbedingt Lehrer oder Taxifahrer werden wolle, habe so ein Studium doch keinerlei Sinn. Jura sei doch viel lohnenswerter. Ganz abgesehen davon, dass Juristen – so sie nicht zur Elite ihres Jahrgangs gehören – ebenfalls kein einfaches Dasein fristen, ist die Frage natürlich falsch gestellt.
Ich werde mich hier nicht weiter über die Berufsaussichten auslassen, die mit einem Geschichtsstudium offen stehen. Zuletzt spielen da weitaus mehr Faktoren eine Rolle als ein Abschluss. Die Mär, nur das Richtige zu studieren, und dann quasi ein Anrecht auf einen sicheren Arbeitsplatz zu haben, mag noch für die 80er Jahre gegolten haben, ist aber im 21. Jahrhundert nichts weiter als eine urban legend. Und das betrifft schon lange nicht mehr allein die Geisteswissenschaften.
Es existierte mal eine Zeit, in der das Humboldtsche Bildungsideal so geläufig war, dass man bei der Frage nur den Kopf geschüttelt hätte. Geschenkt. Praktikable Verwendung spielt heute eine weitaus größere Rolle als Bildung des Charakters und des Geistes. Damit geht die Verschulung der Universität logischerweise Hand in Hand – und natürlich der Umstand, dass heute jeder quasi studieren muss, nachdem jeder das Abitur erworben hat. Bildung für alle eben, alles andere wäre ja ungerecht – oder?
Zeitgeist, könnte der Geschichtsphilosoph kontern. Denn genau da setzt bereits die Lehre aus dem Studium an: das Bewusstsein, dass wir in einer Zeit leben, die geschichtsfeindlich ist, solange sie nicht einer herrschenden Ideologie dient. Historiker waren mal bedeutende Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert, angesehen und auch nicht schlecht verdienend. Wieso? Weil sie Stützen der Legitimation waren.
Das war zuerst beim Nationalstaat der Fall. Die gesamte deutsche Geschichtsschreibung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts liest sich als Vorspiel zur Gründung des deutschen Nationalstaats von 1871. Die Fragen waren daher durchweg: warum gab es keinen Nationalstaat wie in England, Frankreich oder Spanien? Was waren die Gründe dafür? Und darüber hinaus: wo sehen wir Ansätze, die auf die nationale Einigung abzielen und wiederum Gegensätze, welche diese verhindern?
Geschichtsforschung war daher auch immer Geschichtsdeutung. Das mittelalterliche, starke Stauferreich war die Krönung der deutschen Geschichte, das Reich der Frühen Neuzeit dagegen ein „Flickenteppich“, außenpolitisch schwach und Beute fremder Mächte. Beides ist – alle Fakten zusammen genommen – grober Unfug und zugleich nicht ganz unwahr. Aber das ist auch typisch Geschichte: der Historiker versteht (wenn es auch ein paar Jahrhunderte dauern kann), dass er als Mensch determiniert ist, und die Welt nicht in schwarz und weiß unterteilen kann. Daran sind die Historiker des 19. Jahrhunderts im Nationalgedanken gescheitert, auf anderen Gebieten haben sie dagegen brilliert und konnten noch differenzierter denken als manche aktuelle Denkschule. Zur Vereinbarkeit von „Wahrheit“, Fakten, Unwahrheit und Unwissen als Stärke der Geschichtswissenschaft werde ich in einem späteren Beitrag ausführlicher schreiben.
Später machten sich andere Ideologien die Geschichte Untertan. Faschistische Historiker in Italien sahen im antiken Rom die Legitimation Italiens, das Mittelmeer erneut zu unterwerfen („Dir Rom obliegt es, den Erdenkreis zu beherrschen“, wie Vergil so schön sang). In der Sowjetunion lief alles auf die Umwandlung der ökonomischen Verhältnisse und der Entstehung eines neuen Menschen hinaus. Historiker im Dritten Reich entdeckten „rassische“ Konzepte. Und seit Fukuyama haben die „Liberalen“ (ich setze dies bewusst in Anführungszeichen) plötzlich die Idee, die Geschichte steuere auf eine Demokratisierung der Welt zu.
Seit dem 19. Jahrhundert sind demnach Geschichte und Geschichtswissenschaft immer wieder das Opfer von Ideologen, Welterklärern und jenen, die sich selbst zu legitimieren versuchen. Es existiert kein älteres Werkzeug, um seine Macht abzusichern, als das Alte selbst. Das führt dazu, dass man bei Misserfolg Dinge in die Geschichte hineininterpretiert, um sich die große Erzählung passend zu machen. Kurz: wer sich mit Geschichte kritisch befasst, lernt zuerst die Geschichte der Manipulation, der Propaganda, der Verleumdung, der Hinterlist und der Lüge kennen.
Ein kritisches Geschichtsstudium hat das Weltbild mancher Leute daher zutiefst zerrüttet. Es war im wahrsten Sinne eine „Enttäuschung“, heißt, das Ende einer Täuschung und zugleich ein Kummer darüber, dass es vielleicht nichts gibt, was wir mit Sicherheit sagen können. Um es in die Worte von Winfried Schmitz zu packen: „Kann sein, kann aber auch nicht sein.“ Es ist aber gerade jener sokratische Gedanke, der so fruchtbar und so wichtig in einer Welt ist, in der alles bereits festgelegt, politisch korrekt, alternativlos, nachhaltig, tolerant, bunt, weltoffen, gender, turbokapitalistisch, solidarisch, hip, frei und öko-bio daherkommt.
Ein gutes, verstandenes Geschichtsstudium lehrt in erster Instanz, dass die Menschen immer neue Wege finden, um sich das Leben zur Hölle/zum Paradies zu machen, und das unsere heutige Zeit eben in keiner Hinsicht besser ist, sondern eine Fortsetzung all dessen. Menschen suchen immer nach Erklärungen, und immer glauben sie, den Heiligen Gral gefunden zu haben. Ein bewusstes Geschichtsstudium, bei dem man sich mit Originalquellen befasst, ohne Deutung, sondern nur mit leisem Herantasten und ohne Voreingenommenheit, kann Demut lehren. Demut auch davor zu glauben, dass immer alles so einfach ist, wie wir es vorgekaut bekommen – nicht nur damals, sondern vor allem heute.
Der echte Historiker ist ein Ärgernis, weil er eine gründliche Skepsis gegen Ideologien, Medien, Trends, Mode, Zeitgeist, Politik und all das entwickelt, was heute Gang und Gebe ist, eben weil er um die Endlichkeit des Seins und die mörderischen Fehler seines eigenen Geschlechts weiß. Ein Geschichtsstudium bringt daher vielleicht kein Geld, aber es lehrt einen, was Freiheit wirklich bedeutet.
Womöglich ist das der Grund, warum heutzutage Historische Seminare kaum noch mit Geld ausgestattet werden.