Referendum in Venetien: Ist der Veneto wirklich „wahnsinnig“ geworden? (2)

23. März 2014
Kategorie: Freiheit | Historisches | Medien | Regionalismus | Venedig

Obwohl die Staaten die kältesten aller Wesen sind, wäre es aber verfehlt, dass die Veneter nur daran denken. Ich bin immer wieder überrascht, wie ältere Menschen oder auch ganz gewöhnliche Leute darüber Bescheid wissen, wer Marcantonio Bragadin war, was bei Lepanto geschehen ist, und überhaupt mit Ehrfurcht von der alten „Repubblica Veneta“ sprechen, welche die Meere beherrschte. Natürlich gehen da historische Fakten zugunsten von Mythen verloren. Aber das macht ja Venedig aus, das sich noch zu Lebzeiten zum Mythos machte. Man kann in kaum einen Ort des Veneto gehen, ohne einen Markuslöwen, einen venezianischen Palazzo oder sonst ein Relikt aus der jahrhundertelangen Herrschaft der Serenissima zu finden.

Wenn ich nach Verona fahre, sehe ich über der Porta Nuova die Flagge des Markuslöwen.

Wenn ich am Gardasee spaziere, ist es schwer, nicht über einen Stein aus venezianischer Zeit zu stolpern.

In Venedig höre ich alte Lieder, die man schon im 18. Jahrhundert kannte, und auf den Stufen von Santa Lucia fragte mich ein älterer Herr, ob ich von Marcantonio Bragadin gehört habe.

In Vicenza sprechen die Jugendlichen Vicentinisch, nicht Italienisch.

In Padua sehe ich die Wappen der venezianischen Familien und die Abzeichen der Republik überall.

Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht. Aber wenn man in so einer Umgebung aufwächst, lebt, jeden Tag – dann ist die Republik Venedig eben nicht irgendein untergegangener Staat, sondern eine glorreiche Vergangenheit, an die man sich zurückentsinnt. Wie die Hirten, die auf dem Forum Romanum weideten, wissen die Einwohner vielleicht nicht mehr genau, was Rom war, aber sie haben eine Vorstellung davon und erahnen die Größe in den Ruinen. Die Ideen, die Mythen, die Legenden bleiben. Erst in den letzten drei Jahrzehnten hat man sie wieder dezidierter ausgegraben, teilweise überspitzt und manipuliert, um auch viele Dinge zu postulieren, die meiner Ansicht nach nicht stimmen – „Kolonisation“ durch „Italiener“, absichtliche Zerstörung venetischen Erbes, Abgrenzung zu den Lombarden, Verleumdung „italienischer Persönlichkeiten“ (wie Cavour, Garibaldi, sogar Literaten!), Negierung alles Italienischen. Es gibt viele Gruppen. Ich könnte ohne meinen Dante nicht leben, einige Hardliner würden ihn niemals akzeptieren und Goldoni vorziehen. Aber solche Reibungspunkte entstehen immer, wenn das Pendel von einem Extrem zum anderen schlägt.

Hier kommt ein dritter, und finaler Punkt zum Tragen, nämlich eine gewaltige Abscheu gegen den italienischen Staat. Jener Staat, welcher seine Bürger abzockt, aber nichts für sie tut, der die Steuern drastisch erhöht hat, aber Leistungen kürzt. Jener Staat, der die Reputation und Ehre Italiens wegen seiner korrupten Machtspiele verzockt hat. In Verona konnte ich es immer wieder hören: „Hier funktioniert doch alles! Die Polizei, die Wirtschaft, sogar die Bürokratie. Was brauchen wir die? Die machen uns alles kaputt“. Damit ist auch das Ansehen Italiens in der Welt gemeint. Nicht nur Venetien, sondern ganz Italien kann auf eine große Vergangenheit, eine hervorragende Kultur, auf Künstler, auf große Würfe in der Wissenschaft zurückschauen. Auf Glanzwerke der Literatur, von der Göttlichen Komödie bis zu den Promessi Sposi; von Entdeckern wie Marco Polo hin zu Kolumbus und Amerigo Vespucci; dazu Wissenschaftler wie Galilei und Marconi, Künstler wie Leonardo und Michelangelo. Die italienische Küche wird weltweit geachtet. Ich könnte seitenweise damit fortfahren. Aber mit was wird dieses Land assoziiert? Mafia, Berlusconi, Bunga-Bunga. Muss man nicht verzweifeln, wenn man sich selbst als Erben von Tizian und Goldoni sieht, und dann so in der Welt abgewertet wird, wegen Ereignissen, die ganz woanders stattfinden? Ganz zu schweigen von der Wirtschaftskraft und Finanzstärke des Nordens – stattdessen gehört man zu den PIIGS. Despektierlich nennt man sie Olivenländer, oder redet vom Club Med. Und das, wo die alte Republik Venedig in ihrer Glanzzeit einen größeren Staatshaushalt als Frankreich hatte.

Ich kenne daher Sozialisten und Anarchisten, welche die Lega und andere Unabhängigkeitsbewegungen zutiefst verabscheuen, und dennoch sagen würden, dass sie den freien Veneto wollen. Ich kenne ebenso Leute von der rechten Mitte, die als Vertreter konservativer Werte für den Erhalt des italienischen Staates stehen müssen, aber ihre Heimat nicht in Rom, sondern in den Dörfern Venetiens sehen. Spätestens hier zeigt sich, dass wir es hier nicht nur mit Leuten zu tun haben, die allgemeinhin „die Schnauze voll haben“, sondern man sich dessen entsinnt, was man ist. Das Ergebnis der Volksbefragung (denn es bleibt eine rein private Angelegenheit) mag vielleicht übertrieben sein. Aber ich bin persönlich davon überzeugt, hielte man noch in diesem Jahr ein bindendes Referendum ab, so würde – im Hinblick der gewaltigen Interessen- und Gemengenlage – sich eine Mehrheit mit Sicherheit für Venetien aussprechen, ob nun in Form einer Autonomen Republik, oder gar der Unabhängigkeit. So habe ich meinen Veneto kennengelernt, unabhängig von Journalisten und Tageszeitungen.

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