Referendum in Venetien: Ist der Veneto wirklich „wahnsinnig“ geworden? (1)

22. März 2014
Kategorie: Freiheit | Historisches | Medien | Regionalismus | Venedig

Ich hatte mir vorgenommen, in diesem Blog nie ein politisches Thema anzuschneiden. Das soll es auch nicht werden. Doch die Umstände bieten sich an, diese Sache gründlicher zu vertiefen, denn ich bin mir sicher, dass sich einige die berechtigte Frage stellen: was geht da eigentlich im Veneto vor sich?

Die meisten wissen, dass ich immer ein Vertreter der Unabhängigkeit Venetiens war. Das wurde und wird belächelt, besonders in Deutschland. Hier hat sich der Terminus „Kleinstaaterei“ so eingebürgert, dass die Deutschen übersehen, dass nicht der Veneto die Anomalie ist, sondern Deutschland. In jedem bedeutenden Land Europas gibt es regionalistische Formationen: Flamen, Katalanen, Schotten, Veneter sind die größeren Vertreter von Volksgruppen, die sich mehr Rechte oder die Unabhängigkeit wünschen. Korsen, Südtiroler und Basken sind kleinere Beispiele, aber nicht minder wichtig. Stattdessen hat Deutschland eine Partei, die sich Grüne nennt, die aber ansonsten in anderen europäischen Ländern keine Entsprechung hat. Verständlich, dass es daher den Deutschen schwer fällt, solche Befindlichkeiten zu verstehen, außer sie kommen aus dem süddeutschen Raum. Ich darf hinzufügen: wenn ich meiner Sippschaft erklären muss, wer die Grünen sind, was die wollen, und wieso die eigentlich so stark sind, schütteln die genauso den Kopf.

Die regionalistischen und separatistischen Tendenzen in Venetien sind keine Neuheit. Schon in den 20er Jahren gab es eine erste Gruppierung, welche die Loslösung des Veneto von Italien forderte – da damals aber Mussolini das Sagen hatte, verschwanden diese ersten Splitter venetischen Selbstwertgefühls wieder. Erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gab es eine Wiederauferstehung in Form der Liga Veneta, welche die stärkste Partei bildete (und heute noch bildet). Es sei angemerkt, dass diese Liga älter ist als die Lega Lombarda in der benachbarten Region, welcher Umberto Bossi jahrelang vorstand. Beide Parteien organisierten sich später in der Lega Nord, welche die Abspaltung Norditaliens wollte, um ein Land mit dem Namen „Padania“ zu schaffen. Padania, das spielt auf den lateinischen Namen des Flusses Po an. Historisch gesehen entspräche es dem mittelalterlichen Regnum Italiae, dem alten Königreich Italien zwischen den Alpen und dem Kirchenstaat. Ab Ende der 90er änderte man das Programm in Richtung Föderalstaat. Man muss dafür wissen: Italien ist ein Zentralstaat, in dem Rom immer noch das letzte Wort hat. Dementsprechend holte die Lega in den 90ern und 2000er Jahren beachtliche Ergebnisse in Norditalien.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen „Leghisten“ und „Venetisten“ gibt. Die Bewegungen für eine Unabhängigkeit oder autonome Region Venetien sind sehr heterogen. Die Lega stellt heute mit Luca Zaia den Ministerpräsidenten der Region Venetien, und holte bei der letzten Wahl 35% – und war damit stärkste Kraft! Die Partei der rechten Mitte gewann 25%, die der linken Mitte 20%. Daneben gibt es unendlich viele Splittergruppen, die weit radikaler als die Lega sind, aber zusammen höchstens auf 2% der Gesamtstimmen kämen. Dennoch unterschätzen viele, dass es neben diesen Venetisten eine latente Stimmung im Veneto gibt, die durchaus sagt, dass die Republik Venedig bzw. der Veneto wieder frei sein solle, denen aber eher die Hand abfaulen würde, bevor sie die Lega wählten. Meiner persönlichen Erfahrung nach ist das Spektrum derjenigen, die eine Autonomie Venetiens oder gar einen eigenen Staat wollen, beträchtlich höher, als es die Wahlergebnisse vermuten lassen. Nicht nur Leghisten, sondern auch die Koalitionspartner vom PdL äußerten immer wieder „Venetisten“ zu sein, das heißt: erst der Veneto, dann alles andere. Wie ist das zu erklären?

Zuerst einmal: das Image der Lega ist schlecht. Die Lega hat in der Vergangenheit einige sehr umstrittene Kampagnen geführt, welche sich auf Migrationspolitik fokussierte. Vorwürfe wegen Rassismus und provokante Aktionen hingen damit zusammen. Der Leghista gilt als Pöbel, ungebildet, als Handwerker am Stammtisch. Von meinen Bekanntschaften in Venedig ist niemand Leghist, aber alle sind Venetisten. Sie mögen nicht die Partei, welche Austritt oder Autonomie propagiert, aber nichtsdestotrotz halten sie das für kein schlechtes Ziel.

Der Grund dafür liegt in einer spezifischen Eigenart der Veneter, die mir als Brescianer dort aufgefallen ist. Gewöhnlicherweise identifiziert sich der Italiener nach der Stadt. Man ist Bergamasche, Brescianer, Milanese. Viel seltener hört man, dass man Lombarde sei. Im Veneto ist man natürlich auch erst einmal Veronese, Paduaner oder Trevisaner (und vor allem: Venezianer, wenn es sie noch gibt), aber das „Wir-Gefühl“ ist meiner persönlichen Erfahrung nach viel ausgeprägter. Zwischen den Städten Venetiens existieren auch keine traditionellen Feindschaften, wie sie sonst üblich sind. Die Rivalin Venedigs liegt in Ligurien, Verona hasst Mantua. Innervenetische Streitigkeiten sind mir bis heute nicht zu Ohren gekommen.

Ein weiteres Motiv ist natürlich das Geld. Reicher Norden, armer Süden. Die Geschichte Venetiens ist hier aber etwas komplizierter, denn der Veneto geriet nach dem Untergang der Republik Venedig 1797 in eine tiefe Krise. Man muss sich das vorstellen: da hat man jahrhundertelang eine gut funktionierende Republik mit Institutionen, einem eigenen administrativen System und einer gewaltigen Schiffswerft mit Flotte – und dann, auf einmal, alles weg. Venedig war keine Hauptstadt mehr, sie verlor alles, was Hauptstädte auszeichnet. Das Arsenale, die größte Schiffswerft der Welt, arbeitete kaum, dann gar nicht mehr. Man stelle sich die tausenden, arbeitslosen Arsenalarbeiter vor. Man stelle sich die arbeitslosen Juristen und Beamten vor. Die unbezahlten Matrosen. Man stelle sich den Effekt auf die anderen Städte vor, deren Profit einbricht, weil Patrizier das Land verlassen, danach die gebildete Schicht und am Ende sogar einfache Bauern.  Eine Gesellschaft in der Abwärtsspirale. Die Situation verschlimmert sich drastisch nach den Revolutionsjahren 1848/49, in welchen Venedig versuchte, sich erneut unabhängig zu machen und die österreichische Herrschaft abzuschütteln. Doch der Aufstand scheitert, und die Österreicher entheben Venedig vieler seiner Privilegien, wie den Sitz von Marinestützpunkten und Marineakademien – man konzentriert sich von nun an auf das istrische Pula und Triest.

Was folgt, ist eine riesige Auswanderungswelle, in andere europäische Länder, aber vor allem Südamerika, mit Schwerpunkten in Brasilien, Argentinien und Mexiko. Keine Region Italiens, nicht einmal im Süden, hat so viele Auswanderer in die Welt geschickt wie Venetien. Und im neu gegründeten Königreich Italien, von dem Venetien im Jahr 1866 annektiert wird, liegt diese Region an der Grenze und wird weiterhin vernachlässigt. Bis in die 1970er Jahre gilt Venetien als das „Sizilien des Nordens“. Und hier ist ein Knackpunkt: im Gegensatz zu Süditalien, dass seit der Gründung Italiens durchgefüttert wird, schaffen die Veneter in der Nachkriegszeit den Anschluss an den Rest Norditaliens und machen ihre Heimat zu einer der wohlhabendsten Regionen der Republik. Man muss sich in die Psychologie der Veneter reinversetzen: da wird einem das eigene Land völkerrechtswidrig genommen, von den Mächtigen rumgereicht, nicht beachtet, vernachlässigt und kaum gefördert; dann endlich schafft man es, sich etwas alleine aufzubauen, und kaum hat man den „turning point“ geschafft, wird man von Rom zur Kasse gebeten, nun auch für die Brüder im Süden zu zahlen. Dass genau in diesen Zeiten die venetischen Unabhängigkeits- und Autonomieparteien gegründet wurden, ist eben kein Zufall.

Man mag nun argumentieren, dass finanzielle Unabhängigkeit kaum ein Grund für die staatliche sein kann. Schaut man jedoch in die Geschichte, dann sieht man, dass dies keine Ausnahme, sondern die Regel ist. Die USA haben sich letztendlich von Großbritannien gelöst, weil sie niedrigere Zölle bzw. Steuern zahlen wollten, da das Mutterland die Kosten der vergangenen Kriege auf die Kolonien abwälzte. Andersherum haben sich Schottland und England erst vereinigt, weil Schottland so dem Staatsbankrott entging (man kann daher argumentieren: da es Schottland wieder besser geht, kann man über die Auflösung dieser Vereinigung beraten). Und die Schweiz existiert nicht zuletzt deswegen, weil die ersten Eidgenossen alle Gebühren für die Alpenpässe einbehalten wollten, statt sie an die Habsburger abzuführen. Auch die erste „Lega“, die Lega Lombarda der italienischen Städte gegen Kaiser Barbarossa, bildete sich deswegen, weil man dem Kaiser keine Steuern zahlen wollte. Dass man solche Gründe nicht mehr gelten lassen will, ist eher im Interesse der Herrschenden und Mächtigen, statt der zahlenden Völker. Der Veneto wäre zudem als unabhängiges Land mit 5 Millionen Einwohnern und einem BIP von  28.889 € pro Kopf ein durchaus lebenstaugliches Gebilde, im Gegensatz zu gewissen jugoslawischen Kunststaaten, welche von der Staatengemeinschaft aufrechterhalten werden.

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