SZENE I
INNEN. PALAZZO BRACCIOLEONE – ATELIER – TAG
Ein wohnzimmerähnlicher Saal, der mit Skulpturen, Gemälden und Bronzefiguren geschmückt ist. Aquarelle hängen an den Wänden. An der Seite lässt eine Terrassentüre Licht hinein, dahinter liegt ein Garten, hinter dem sich wiederum der Palatin erhebt, auf dem die Festung thront.
TIBERIO LIVIO DI TESTABELLA E BRACCIOLEONE (33) steht an der Terrassentüre. Ein Mann von Härte, Energie und abgeklärtem Blick. Trotz seiner Jugend scheint er zwei Menschenalter gesehen zu haben, Krieg, politisches Geschacher und die Abgründe der Macht. Er betrachtet die Silhouette der Festung in der Ferne.
Hinter ihm sitzt an einer Leinwand seine Schwester, ANTEA CALLIOPE DI TESTABELLA E BRACCIOLEONE (25), die dort ein Aquarell malt, ohne Vorlage. Antea umgibt die geheimnisvolle Aura einer jungen Frau, die mit Mitte 20 Männer um den Finger gewickelt und politisch bedeutungslos gemacht hat. Sie ist schön, edel und besitzt eine charmante Kühle. Sie wirkt ganz auf ihre Kunst konzentriert.
ANTEA:
Für einen Vorsteher der Città Antica schaut mein lieber Bruder wieder viel zu lange zum Festungsberg.
Tiberio bleibt am Fenster, verzieht keine Miene.
ANTEA:
(provokant lächelnd)
Wünschst du dich plötzlich in die Nähe des Mannes, den du so verabscheust?
TIBERIO:
(kühl)
Ich wünsche mich da hin, wo Politik gemacht wird.
ANTEA:
Auf der Festung wird keine Politik gemacht, sondern der Krieg. Die Politik ist dem Dogenpalast vorbehalten.
TIBERIO:
In einer Zeit, in welcher der Krieg das Überleben der Republik bestimmt, bestimmt der Krieg die Politik, Antea.
Tiberio wendet sich um. Die Augen düster, die Stimme hart.
TIBERIO:
Stattdessen soll ich mich um Steuerlisten, Brunnen oder Hermelinklappen in öffentlichen Gebäuden kümmern, während die großen Fragen ohne mich entschieden werden. Selbst Monte Veronese hat mehr Einblick in die Affären der Republik. Und dabei ist er nur vierter Dogenberater!
ANTEA:
In einer Handelsrepublik gilt der Kassenwart als der mächtigste Mann – und du bist der erste Dogenberater des reichsten Viertels der Hauptstadt.
TIBERIO:
Ich wäre besser beim Militär geblieben, statt Rechnungen auszustellen.
ANTEA:
(lächelnd)
Wenn ich mich recht entsinne, hast du dich von deiner militärischen Karriere verabschiedet, weil man dich nicht aufsteigen ließ.
Antea legt den Pinsel zur Seite. Sie betrachtet ihr Werk, steht auf. Tiberio bemerkt das Kunstwerk nicht, geht an ihr vorbei. Er tritt zum Familienwappen, das an der Wand hängt. Ein Wappenspruch steht darunter (GLORIA ET HONOR).
TIBERIO:
Buonavista war es schon zu viel, dass ich dieses Amt erreichte. Wenn du wüsstest, wie mich jedes Gespräch mit „Seiner Exzellenz“ innerlich brechen lässt. Ich könnte daran ersticken.
ANTEA:
Macht, mein lieber Tiberio, erwirbt man nicht nur, indem man gleich einem Löwen seinen Feind erschreckt. Es bedarf auch der Schläue des Fuchses, um ihn zu überlisten.
Antea schmiegt sich an ihren Bruder.
ANTEA:
Du wirst Zeit genug haben, deiner Familie Ruhm und Ehre zu verschaffen. Wie schon Generationen zuvor das Haus der Testabella e Braccioleone zum edelsten der Republik gemacht haben. Seit Jahrhunderten.
TIBERIO:
(abschätzig)
Ruhm. Ehre. Wer spricht davon, wenn die Florentiner vor der Türe stehen, die Franzosen unsere Felder verwüsten? Keiner von denen hat gegen sie gekämpft. Sie schicken Heere ans andere Ende Italiens, wissen aber nicht, wie man mit diesen Leuten umzugehen hat.
ANTEA:
Zu viel Ehrgeiz…
Antea nähert sich seinem Ohr.
ANTEA:
(flüstert)
… hat unseren Bruder bereits das Leben gekostet.
TIBERIO:
Lieber einen Tag als Löwe leben, als hundert Jahre wie ein Schaf.
An der Türe klopft es LAUT. Antea löst sich von ihrem Bruder, geht zurück zu ihrem Aquarell und setzt sich hin.
TIBERIO:
(schroff)
Herein.
SALIM IBN AS-SABBAH (24) tritt ein. Ein mittelgroßer Araber, misstrauisch, spricht das Italienische mit nur geringen Spuren von Akzent. Wirkt oberflächlich gelassen, ist aber innerlich aufgewühlt und reizbar.
TIBERIO:
As-Sabbah. Ich hatte noch nicht vor, aufzubrechen.
SALIM:
(abschätzig)
Das solltet Ihr aber. Man erwartet Euch.
TIBERIO:
Ich bin der Erste Dogenberater und Vorsteher der Città Antica. Wenn, dann erwarte ich jemanden.
SALIM:
(nachdrücklich)
Ich bedaure ja, Signore, aber mir war es leider unmöglich, den Palatin in das Atelier zu schieben.
Tiberio und Antea wechseln Blicke.
TIBERIO:
Wenn man mich auf dem Festungsberg erwartet, muss man meine Hinrichtung festgesetzt haben. Da will ich nicht zu spät kommen – gebt dem Kutscher Bescheid.
Salim verlässt das Atelier ohne sich zu verneigen. Tiberio folgt ihm.
ANTEA:
Tiberio…
Tiberio hat das Atelier verlassen. Antea bleibt allein zurück, schaut auf das Bild, das sie soeben beendet hat. Es zeigt den Hafen von San Pietro.