[…]
Luther ist der einsame Revolutionär eines zur Innerlichkeit neigenden Volkes, dem der Aufstand zutiefst zuwider bleibt. Umso mehr hat dieser Anführer der eigentlichen deutschen Revolution – eine „Reformation“ waren die Ereignisse ab 1517 im Wortsinn nie – Spuren in der Erinnerungskultur hinterlassen, weil sein Widerstand nicht partiell, nicht nuanciert oder nur auf eine Ebene bezogen war; Luthers Aufbegehren war eine prinzipielle Sache. „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“ mag zwar ein verkürztes Zitat des Komponisten Richard Wagner sein, steht aber ganz in der Tradition dieser lutherischen, in seiner Evolution späterhin preußischen und damit reichsdeutschen Gedankenwelt.
Luther spaltete nicht nur das abendländische Christentum, indem er gegen den Papst opponierte. Die Reformation wurde zum Instrument deutscher Territorialfürsten, um sich den Ansprüchen des Kaisers zu widersetzen. Die protestantische Opposition verhinderte nicht nur die Erbfolge der Habsburger als römisch-deutsche Kaiser, sondern auch eine Straffung des Reiches, zuletzt im Dreißigjährigen Krieg; in der Gestalt Friedrichs II. von Preußen gewann dieser protestantische Geist menschliche Gestalt, indem dieser mit Verweis auf Preußens „Unabhängigkeit“ nicht nur gegen Reich und Kaiser Krieg führte, sondern sogar das österreichische Schlesien stahl.
Mit Luther vertiefte sich ein anti-römischer Reflex in der deutschen Seele, den spätere Nationalisten als Narrativ aufnahmen. Der lutherische Geist stellte sich fortan gegen „äußere Kräfte“, die als römisch-imperial wahrgenommen wurden: zuerst in der Gestalt des Papstes, im Dreißigjährigen Krieg in der des Kaisers; in den Koalitionskriegen kehrte der Gegner als napoleonisches Schreckbild zurück, im Zeitalter des Nationalismus richtete sich der Widerstand gegen alles „Welsche“. Letzteres war nicht nur angesichts der alten französischen Affinität Preußens eine Ironie, sondern eine zutiefst tragische Wendung der Geschichte.
Dass von den germanischen Stämmen nur die eine historische Relevanz erhielten, die sich gleichermaßen zu Jesus Christus wie zum römischen Erbe bekannt hatten, geriet als eigentliche Genese der Deutschen in Vergessenheit. Dabei waren es die Franken, die das abendländische Kaisertum in tiefer Verbundenheit mit Rom begründeten, waren es die römisch-deutschen Könige, die als Verteidiger des Glaubens sich nicht als Widersacher, sondern im Gegenteil als Nachfolger Roms verstanden. Trotz Differenzen gab es keinen Zweifel daran, dass die Kaiser seit karolingischer Zeit als „defensor ecclesiae“ Schutzherren der katholischen Kirche waren.
Mit Luther wandten sich die Deutschen von der abendländischen Mission zugunsten eines lokalen, später: nationalen Schollenbewusstseins ab. Dass Luthers Widersacher, Kaiser Karl V., noch nach Italien zog, sich vom Papst krönen ließ und sich damit als „universaler“ christlicher Herrscher verstand, seine Nachfolger jedoch auf diese Tradition verzichteten, belegt den Gesinnungswandel. Das Heilige Römische Reich wurde auch in Deutschland immer mehr als ein Korpus „Deutscher Nation“ verstanden. Die preußische Geschichtsschreibung sollte den „Blick nach Rom“ später als Irrweg abstempeln, im Gegensatz zu jenem von Heinrich dem Löwen geprägten Drang nach Osten.
Dass nicht die tausend Jahre Heiligen Römischen Reiches mit seinen freien Städten und geistlichen Stiften, sondern das halbe Jahrhundert Preußendeutschland bis heute das Geschichtsbewusstsein prägt, ist ganz lutherisch gedacht: das Deutsche Reich von 1871 als Erfüllung einer protestantischen Erzählung, wogegen das „Alte“ Reich mit seinen katholischen Monarchen, seinen nicht-deutschen Völkern, seiner europäischen Vernetzung und seinen Kompromissen bis hin zum Laissez-faire ganz im Gegensatz zur preußisch-protestantischen Idee stand. An die Stelle der Pracht einer universal-katholischen Reichsvorstellung trat die Norm einer spießigen brandenburgischen Kleinstadt.
[…]