Raffael ist dem Himmel nah. Das ist das Bild, das Giorgio Vasari als Vater der Kunstgeschichte in seinen Viten berühmter Künstler zeichnet. Die Einführung zu Raffael liest sich wie der Prolog zur Geburt eines antiken Heros: „Bisweilen sendet der Himmel freigebig und liebreich einem einzigen Menschen den unendlichen Reichtum seiner Schätze, alle Anmut und seltene Gaben, die er sonst in langem Zeitraum unter viele zu verteilen pflegt. Das sieht man deutlich an dem ebenso herrlichen als anmutigen Raffael Sanzio von Urbino.“ Vasari ist es, der den Begriff des „Rinascimento“ einer ganzen Epoche aufdrückt, die im deutschsprachigen Raum über französische Umwege als Renaissance bekannt ist. Raffael ist einer ihrer bedeutendsten Vertreter, der aus einer höheren Sphäre ins Erdengeschehen tritt. Wenn das literarische Dreigestirn Italiens aus Dante, Boccaccio und Petrarca besteht, dann sind dies in der Malerei Leonardo, Michelangelo und Raffael. Dass Raffael an einem Karfreitag geboren wurde und an einem Karfreitag starb, galt als Beleg für ein vollkommenes Leben.
Vasari skizziert seinen Helden aber nicht nur als Meister, der mit seiner Kunst die Natur zu übertreffen droht: Er lobt Raffaels Tugenden, seine vornehme Natur, sein freundliches Auftreten. Leonardos Unzurechnungsfähigkeit und Michelangelos ruppige Introvertiertheit blieben dem allürenlosen Raffael fremd. Es ist nicht der einzige Unterschied zu den anderen beiden Giganten im neuzeitlichen Frühling Europas: Michelangelos 300 Sonette und Leonardos gewaltiger Schriftfundus überdauern als Zeugnis bis in die Gegenwart. Es sind private Aufzeichnungen, in denen sich ihr Charakter spiegelt. Die schriftlichen Hinterlassenschaften des mit 37 Jahren früh verstorbenen Meisters beschränken sich auf wenige Briefe und Sonette. Seine Zeitgenossen und Biographen rühmen seine Großherzigkeit, seine Demut, seine Wissbegierde, seine Anmut; aber aus seiner eigenen Hand besitzt die Nachwelt so gut wie nichts.
Jahrhunderte der Bewunderung haben aus der kargen Quellenlage einen Raffael geformt, der ihnen entgegenkam. Lebensbeschreibungen – so auch die von Vasari – folgten dem italienischen Sprichwort: wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden. Das gilt auch für den Katholiken Raffael. Es reicht ein Blick in die deutsche Klassik und Romantik. Winckelmann erkannte 1755 in der Sixtinischen Madonna eine Seelenverwandtschaft Raffaels zur Antike, das hieß: mit der klassischen, vorchristlichen Welt. Die Madonna berührte die philhellenischen Gefühle der Deutschen und galt eher als griechische Göttin denn als Gottesmutter. Die Romantik schlug ins andere Extrem: Wegen seiner Sittlichkeit galt Raffael nicht nur als größter Maler, sondern auch als christlichster, der seine Inspiration aus einer Marienvision bezog. Der unglückliche Phidias, der in der falschen Zeit lebte, wurde nunmehr als Wiedergänger des Heiligen Lukas dargestellt.