Der Uhrmacher

20. August 2019
Kategorie: Das Palatina-Paradoxon | Europa | Hintergrund und Schreibarbeit | Historisches | Mittelalter | Palatina | Philosophisches

Die Renaissance ist die Zeit der Kunst. Sie bleibt uns durch die Bildhauerei Michelangelos, die Malerei Tizians oder die Architektur Bramantes im Gedächtnis. Dabei wird oft vergessen, dass Kunst und Kunsthandwerk nicht nur evolutionär zusammenhängen; sondern dass die Uhrmacherei den Gipfel des Kunsthandwerks darstellt. Der Anspruch des Uhrmachers war nicht nur reine Effizienz. Eine Taschenuhr war zugleich technologische wie künstlerische Vollendung. Verzierungen, edle Metalle, filigrane Gehäuse: ähnlich wie in der Malerei bilden Sinne und Geist ein Ganzes. Im Laufe der Zeit hat das Uhrmacherhandwerk seine Faszination nicht verloren; aber der Sinn dafür, dass ein italienischer Uhrmacher auf demselben Niveau wie ein Leonardo da Vinci arbeitete, ist uns abhandengekommen. Dabei dürfte die Erfindung tragbarer Uhren in ihrem Gebiet das dargestellt haben, was in der Malerei die Perspektive oder in der Kartographie die Umrundung Afrikas war.

Der Uhrmacher steht damit in einer Reihe mit den großen Entdeckern, Feldherrn und Künstler dieser Epoche. Er stößt die Tür zur Moderne ganz weit auf; es bleibt dabei aber offen, ob er selbst ein moderner Mensch ist. Denn neben dem Künstler verkörpert er zugleich den bodenständigen Handwerker: in ihm lebt die gewissenhafte Mentalität des Mittelalters fort, trotz der Umwälzungen der neuen Zeit. Wie die Glasbläser von Murano hütet er die Geheimnisse seines Berufs und gilt seiner Heimatstadt als wertvoller Spezialist, den man nicht laufen lässt – eifersüchtig kämpfen die Städte darum, dass sie Zugang zu diesem Luxusgut haben. Zugleich waren Uhrmacher Wissenschaftler, weil sie sich nicht nur mit der Zeitmessung, sondern auch mit Physik, Astronomie und Feinmechanik auskannten. Ihr gutes Auskommen macht sie zu Fürsten unter den Handwerkern. Eine Stadt wie Genf nahm Ende des 16. Jahrhunderts einen hugenottischen Uhrmacher ohne Bezahlung des Bürgergeldes auf, wenn er dafür die hiesigen Goldschmiede in seiner Kunst unterrichtete.

Aber es gibt da noch eine andere, viel unbekanntere Seite. Der Uhrmacher verschmilzt mit seiner Arbeit. Uhrmacher gelten als Eigenbrötler, wortkarg und verschroben. Hochdiszipliniert und konzentriert müssen sie ihre feine Arbeit verrichten. Ein Zittern, eine unruhige Bewegung kann ihr Werk zerstören. Ihnen werden Marotten nachgesagt. Wenn sie einmal an der Arbeit sitzen, können sie schwer aufhören, selbst in der Nacht nicht. In der Frühen Neuzeit ist man überzeugt, dass nur der Schlaf in der Nacht gesundheitsfördernd ist, Schlaf am Tag gilt nördlich der Alpen als lebensverkürzend. Sie bleiben auf Distanz, weil die meisten ihre Arbeit kaum verstehen; und mehrere Uhrmacher in derselben Stadt sind selten. Und selbst wenn zwei Uhrmacher im selben Ort arbeiten, so hüten sie ihr eigenes, kleines Fabrikationsgeheimnis. Der Uhrmacher ist hochgeachtet – aber der Mythos, der ihn umgibt, macht ihn zu einem Fremden. Er bleibt unnahbar, eigen, speziell: die Heimat ist nicht die Stadt, sondern seine Werkbank.

Wie im letzten Text erwähnt: im Grunde ist eine Taschenuhr Teufelswerk. Der Mann hinter der Uhr ist ein mysteriöses Phantom, der Normalität des Stadtlebens enthoben.

Unser Uhrmacher heißt Lucius Horologius. Lucius hat seine englische Heimat York verlassen – aus Gründen, die wir nicht kennen. Aus noch unbekannteren Gründen lässt sich Lucius in der italienischen Stadtrepublik Palatina nieder.
Und aus unbekanntesten Gründen wird Lucius nur wenige Wochen nach seiner Ankunft ermordet.

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