Bewegte Zeiten, in denen wir leben: das Parlament bricht wiederholt seine Geschäftsordnung, indem es der AfD-Kandidatin (und gestern: einem AfD-Kandidaten) den Sitz verwehrt. Mit Verweis auf ihr freies Gewissen, das ihnen vom Grundgesetz zugesichert wird, begründen die Abgeordneten der anderen Fraktionen die deutliche Gegenwehr. Das ist gleich mehrfacher Hohn: einerseits, weil es stark an die oftmals aus linksextremen Kreisen vernehmbare Apologie erinnert, wenn es um die merkel’sche Grenzöffnung und das mittelmeerische Schleppertum geht, denn das alles sei mit Artikel 1 des Grundgesetzes legitimiert. Es bleibt der Verweis auf Udo die Fabio, der für eine solche Deutung der Verfassung einmal einwandte, sie sei unter dem Niveau von Erstsemestern.
Tatsächlich kann niemand die Abgeordneten des Bundestages zu einer bestimmten Wahl zwingen; das gilt übrigens auch für alle anderen Abstimmungen. Nun ist es aber so, dass die Abgeordneten des Hohen Hauses davon nur selten Gebrauch machen: schließlich ist es nicht der Abgeordnete, der wählt, sondern nahezu immer die Fraktion. Die Fälle, in denen die Fraktionsspitze freie Wahl erteilt, sind selten, und selbst dann zumeist taktisches Kalkül (siehe Freigabe bei der Zulassung der sog. „Ehe für alle“, bei der die Union so abstimmen durfte, wie sie wollte, wohl, damit es zu keinem Richtungsstreit kam; die Zusage von Rot-Rot-Grün hätte nur zu unnötigem Federlassen geführt). Es ist daher eine Merkwürdigkeit, mit welcher Innbrunst es plötzlich um das freie Mandat des Abgeordneten geht, das er doch sonst so voller Beherztheit seiner Parteiführung anvertraut. Denn wenn das freie Gewissen so wichtig ist, so bleibt doch die Frage, warum die Abgeordneten immer nur daran denken, wenn es um Parteistrategie geht. Oder ist das etwa doch ein Eingeständnis, dass die gesamte CDU/CSU bei der Debatte um das Abstimmungsverhalten Deutschlands in der UN bei Israelfragen der Meinung ist, alles richtig zu machen? Einzig Hans-Peter Friedrich scherte damals aus „Gewissensgründen“ aus.
Geht man demnach wirklich davon aus, dass es Abgeordnete nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, Mariana Harder-Kühnel oder Gerold Otten zum Bundestagsvizepräsidenten zu wählen, so wäre es begrüßenswert, sie richteten jede Abstimmung nach ihrem Wählerauftrag aus, und nicht nur dann, wenn es passt. Gleich wie man es wendet: die Argumentation ist und bleibt scheinheilig und grenzt an pharisäerhafte Heuchelei.
Mit Sicherheit hat die AfD ihre Mängel. Mit Sicherheit haben die aber auch Grüne und Linke. Der Unterschied: mit letzteren liebäugeln die Christdemokraten, man nimmt sie sogar in die Riege der sog. „demokratischen Parteien“ auf, wobei bis heute nicht definiert wurde, warum ausgerechnet die Erben der SED als „demokratisch“ gelten, die von jeder Parteivergangenheit freie AfD jedoch nicht; die schafft es eher, aufgrund einiger manchmal hanebüchener Äußerungen sich selbst eine Parteivergangenheit anzudichten, die sie nicht hat, wenn neuerlich so getan wird, als könne man den 2. Weltkrieg doch noch geradebiegen. Gefühlt begibt sie sich dann in eine Ecke, zu der sie gar keine Verbindungen haben müsste – die Presse nimmt’s umso begieriger auf.
Linke und Grüne haben problemlos den ihnen zustehenden Posten mit einer Bundestagsvizepräsidentin besetzt. Und das, obwohl eine dieser Parteien in Berlin eine offene Enteignungskampagne fährt und der Spitzenkandidat der anderen auf Bundesebene ähnliches fordert. Jetzt mag das nur der aktuellste Fall sein; aber zumindest die Linken, insbesondere die Vertreter der „Kommunistischen Plattform“, haben sich ähnlich verfassungsfeindlich geäußert und im Grunde sollte jede Partei, die einen irgendwie gearteten Sozialismus fordert – ja, auch der „demokratische Sozialismus“ der SPD ist damit gemeint – das „Gewissen“ eines Abgeordneten berühren. Dennoch stimmt man nicht nur freundlich mit den Kollegen ab, sondern ist sogar bereit, Koalitionen bis ganz links einzugehen, wie jüngst vermeldet.
Möglich ist das alles nur wegen eines Klimas, in dem Schulschwänzen als Kavaliersdelikt gilt (indes Homeschooling dazu führen kann, dass die Kinder vom Jugendamt entzogen werden), freitäglich die Kulturrevolution geprobt wird, Dieseltote Medien beherrschen (wieder: indes Migrantengewalt bereits bei Nennung als offen rechtsextrem gilt), Kindergartenkinder die bunte Republik besingen, christdemokratische Gesundheitsminister jeden Menschen als Ersatzteillager ausschlachten wollen (so keine pünktliche Widerrede erfolgt; und wo ist die Fraktion derjenigen, die sonst „Mein Körper gehört mir!“ brüllen?) oder Sektgläser beim Ausstieg aus der Kohlekraft klingen, worauf nur einige verstreute Liberale anmerken, die Idee sei völlig in Ordnung, sie müsste eben nur anders umgesetzt werden. Indessen bereitet der deutsche Teil der katholischen Kirche ihre Abspaltung vor – und kündigt das in Lingen sogar an. Hipper, moderner, angepasster, ganz dem Klima der Zeit entsprechend, während Salvini in Italien Beliebtheitspunkte sammelt, weil er öffentlich erklärt, dass der Satan tatsächlich existiere.*
„Klima“ ist hier mit Bedacht gewählt: denn „Klima“ ist die Priorität in allen Umsetzungen, ob nun wandelhaft oder gesellschaftlich. Zugleich mag die Überzeugung nicht schwinden, dass dieses Narrenschiff, auf dem alles zur Disposition steht, nur nicht die Utopien und gefährlichen Totalitarismen der Grünen und Linken, abrupt sein Ende haben könnte, wenn die Rezession auch hierzulande spürbar ist. Aber: italienische Verhältnisse in Deutschland? Dafür fehlt uns einerseits ein Salvini, andererseits die Italiener. Nicht auszuschließen, dass bei einem nächsten Crash die Kulturrevolution erst richtig in Fahrt kommt, man sich hinsichtlich von Enteignungsfantasien bestätigt sieht, dass ökologische Energiegewinnung nun erst recht die Zukunft sei. Jetzt erst recht – so könnte man bald im Gesellschaftsfunk hören – müsse der großen Sprung nach vorn gewagt werden.
Wir sehen: die Missstände in Deutschland sind aller Orten zu sehen, aber im Grunde bin ich wohl unwissend und neuerlich auf die Propaganda der Rechten und Fake News hineingefallen. Schwamm drüber: trotz eines überall brodelnden Kessels hat der Bundestag nichts besseres zu tun, als Millionen deutschen Wählern die standesgemäße Repräsentation im obersten Repräsentationsgremium durch einen Vizepräsidenten zu verweigern, einfach, weil diese Leute falsch gewählt haben. Die Parteien riskieren gar den Gang nach Karlsruhe, vielleicht, weil sie davon überzeugt sind, dass die richtige Besetzung des Bundesverfassungsgerichts schon für das richtige Urteil sorge.
Nein, man muss die AfD nicht mögen. Aber wer nicht wenigstens ein Mindestmaß an Ekel bei den gegenwärtigen Zuständen im besten Deutschland aller Zeiten empfindet – mit dem will ich nicht wandern gehen.
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*Manch Linker, der Salvini wenig wohlmeinend gegenübersteht, würde darauf hinweisen, dass er die Nachricht aus eigener Hand erhielt.